Gottesgericht
den Vater in wirrem Zustand an, wie er immer noch versuchte, die sterblichen Überreste seiner Tochter in den Lieferwagen zu bekommen.
»Jetzt weiß ich wieder, was ich fragen wollte«, sagte Jane. »Diese Sache, dass er sie unbedingt im Familiengrab beisetzen wollte – das begreife ich nicht. Wenn ein Mann im ländlichen Irland einem Mädchen einen Heiratsantrag macht, fragt er: ›Möchtest du bei meinen Leuten beerdigt werden?‹ Das soll natürlich ein Witz sein, aber es trifft den Nagel auf den Kopf. Heirat bedeutet in traditionellen Gesellschaften, dass die Frau dem Mann auf den Friedhof folgt. Ist das hier nicht auch die übliche Praxis?«
Giuseppe lächelte. »Doch, sicher. Aber die Familie Bua ist ein Sonderfall. Selbst diejenigen von uns, die sie nicht persönlich kennen, wissen von …« Seine Aufmerksamkeit wurde vom Kopfschütteln seiner Frau abgelenkt. »Ja, meine Liebe?«
»Es ist grotesk, wenn du mich fragst. Ich weiß nicht, ob Jane unbedingt von diesen merkwürdigen Gebräuchen erfahren muss.«
»Vielleicht sollten wir sie einfach selbst entscheiden lassen, Lucia.«
»Meinetwegen. Aber du kennst meine Ansicht dazu.«
Jane war neugierig geworden.
»Die Familie Bua hütet seit Generationen ein religiöses Artefakt, das ihre Gemeinschaft im 15. Jahrhundert aus Albanien mitgebracht hat. Und Pfarrer Kamarda zufolge – mit dem ich mich einmal darüber unterhalten habe – haben sie es schon lange Zeit vorher bewacht. Wie es dazu kam, weiß heute niemand mehr, aber wenn ich sage, sie sind die Hüter, dann meine ich damit, dass sie es selbst im Tod noch sind.«
Jane sah ihn nachdenklich an. »Was genau soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass das Artefakt – es handelt sich übrigens um eine Ikone – in der Krypta von ihren sterblichen Überresten umgeben ist. Und sie sind die einzige Familie, die dort begraben wird.«
»Ach so.« Jane begann zu verstehen.
»Deshalb sah sich Enzo Bua als Letzter seiner Linie einem schrecklichen Problem gegenüber: Wer sollte die Tradition fortführen?«
»Aber wenn schon Generationen von Knochen dort liegen, welche Rolle spielt das dann?«
»Nun ja … ganz so funktioniert es nicht. Die Tradition schreibt vor, dass eine gewisse Anzahl von Grabstätten in der Krypta von Familienangehörigen besetzt werden muss, bis ihre Gebeine so weit sind, dass man sie ins Beinhaus verlegen kann. Signor Bua wollte die Leiche seiner Tochter holen, damit sie sozusagen einen der freien Plätze belegen konnte.«
»Du erklärst das nicht sehr gut, Giuseppe. Wenn du es Jane schon erzählen musst, dann mach es richtig.« Lucia sah Jane an und schürzte die Lippen. »Die betreffende Familie begräbt ihre Toten meines Wissens nicht so wie andere.«
»Ich weiß nur, was ich im Lauf der Jahre so aufgeschnappt habe«, sagte Giuseppe und lächelte gezwungen. »Nach dem Begräbnis wird der Tote sofort in der Krypta bestattet, die sich unter der Kirche von Collalba befindet. Ich glaube, der Eingang ist rechts vom Hauptaltar. Und anders als Lucia sagt, findet man diese Tradition auch hier in unserer Gegend, nicht nur in der Gemeinde der Arbëresh. Unter Mönchen und Nonnen im Wesentlichen, aber auch bei Laienbruderschaften, die sich bestimmten religiösen Zwecken widmen.«
»Ich finde es abstoßend«, sagte Lucia und verzog das Gesicht. »Was sie mit den Leichen machen. Igitt.«
»Lucia!« Giuseppe verlor die Geduld mit ihren ständigen Einwürfen. Er wandte sich an Jane und bemühte sich zu lächeln. »Es ist nur Hörensagen. Wir wissen es nicht genau.«
»Ihr wisst was nicht?«
»Wie die Leichen konserviert werden«, ließ Lucia nicht locker.
»Sie konservieren die Leichen?« Jane sah Giuseppe fragend an.
Giuseppe schüttelte den Kopf, er verzweifelte inzwischen an Lucia. »Nicht wirklich. Nicht wie Mumien. Es ist nur so, dass man sie freiliegend langsam verwesen lässt. Bis das Skelett allmählich zerfällt.«
»Igitt.«
»Ich denke, wir verkennen, worum es geht«, sagte Giuseppe ernst. »Wie gesagt, war diese Praxis außerhalb der Geistlichkeit und der Klöster auf die Angehörigen von Bruderschaften beschränkt, die sich wohltätigen Zwecken widmeten oder vielleicht einen Schrein verehrten. In diesem Fall handelt es sich um eine einzelne Familie. Und wie es aussieht, erleben wir gerade das Ende dieser Tradition.«
»Also, was mich angeht …« Lucia unterbrach sich und lauschte.
Dann hörte es Jane ebenfalls. Im Haus läutete das Telefon.
Giuseppe sah Lucia mit einem
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