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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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sich nach der Wärme, die der letzte Adventssonntag ihm immer schenkte, nach der zufriedenen Freude über Weihnachten, über die Geschenke, darüber, dass sein Sohn sich auf die Ferien freute, dass seine Mutter noch am Leben war und ihn schalt und ungerecht war, darüber, dass er alles bezahlt hatte, wie sich das gehörte, und dass alles so war, wie es sein sollte. Er wollte an das Leben denken, das noch nicht zu Ende war, wenn es ihm nur gelang, ruhig zu atmen.
    Ruhig werden. Ganz ruhig werden.
    Sein Blick fiel auf einen Nachtwanderer, der jetzt noch unten am Kai vorübertaumelte, anscheinend ohne Ziel. Es war fast fünf Uhr am Sonntagmorgen. Alle Lokale waren geschlossen. Der Mann dort unten war allein unterwegs. Er schwankte und konnte sich auf dem vereisten Gehsteig nur mit Mühe aufrechthalten. Plötzlich legte er einige verzweifelte Tanzschritte ein, packte seine Mütze wie einen festen Punkt und verschwand über dem Rand des Hafenbeckens.
    Sofort war alles anders. Das Herz gehörte ihm wieder. Der Druck auf der Brust ließ nach. Marcus Koll richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. Seine Schleimhäute schienen sich zu glätten, die Zunge schrumpfte, sein Mund war wieder feucht. Die Gedanken folgten einander in logischer Chronologie. Rasch überschlug er, wie lange er brauchen würde, um das Büro zu verlassen und die Treppen hinunter zum Kai zu rennen. Ehe er diese Rechnung beendet hatte, sah er Menschen herbeiströmen. Fünf oder sechs, darunter ein Wachmann, sie riefen so laut, dass er sie hier oben hören konnte, im fünften Stock hinter dreifach isoliertem Glas. Der uniformierte Mann kletterte schon ins Hafenbecken hinunter.
    Marcus Koll wandte sich ab und beschloss, nach Hause zu fahren.
    Jetzt erst wurde ihm klar, wie müde er war.
    Wenn er sich beeilte, würde er vielleicht drei Stunden schlafen können, ehe der Junge sein Recht verlangte. Es war ja schließlich Sonntag und fast schon Weihnachten. Vermutlich lag noch Schnee auf den Anhöhen. Sie könnten Schlitten fahren. Ski laufen vielleicht, wenn sie weit genug hinauffuhren.
    Ehe er ging, öffnete Marcus Koll noch die kleine Dose mit den länglichen weißen Pillen, die in der obersten Schublade lag. Vermutlich war das Verfallsdatum überschritten. Es war so lange her. Er ließ eine über seine Handfläche kullern. Gleich darauf legte er sie zurück, schraubte den Deckel zu, stellte die Dose zurück und schloss den Schreibtisch ab.
    Es war vorbei, für dieses Mal.
    Die Sirenen kamen schon näher.
    »Kommen die Bullen? Sind sie das? Hat jemand einen Krankenwagen gerufen? Das sind Polizeisirenen, Scheiße. Ruf einen Krankenwagen. Hilf mir doch mal!«
    Der Wachmann hing mit einem Arm an der Kaimauer. Mit einem Fuß hielt er sich noch an einem glitschigen Querbalken einen knappen halben Meter oberhalb des Wasserspiegels. Verzweifelt versuchte der durchtrainierte Mann für seinen schweren Körper Halt zu finden.
    »Halt mich doch fest! Pack die Jacke!«
    Ein junger Mann legte sich im Matsch flach auf den Bauch und griff mit beiden Händen nach dem Arm des Wachmanns. Seine Augen leuchteten. Er würde in zwei Monaten achtzehn werden, aber ein segensreicher dunkler Bartflaum erlaubte es ihm schon jetzt, die ganze Nacht von einem Lokal zum anderen zu ziehen, ohne mit Fragen behelligt zu werden. Er besaß kein Geld und hatte sich vor allem auf Bierreste konzentriert, wenn er welche ergattern konnte. Jetzt fühlte er sich stocknüchtern.
    »Der ist das nicht«, prustete er und packte fester zu. »Der, der reingefallen ist, liegt weiter draußen.«
    »Was? Hä?«
    Der Wachmann starrte den Körper an, den er verzweifelt hochzuziehen versuchte. Er hatte den Kragen der Jacke fest gepackt, aber die Gestalt in den Kleidern hing leblos und bleischwer im Wasser, die Kapuze auf dem Kopf war fest zugebunden.
    »Hilfe«, schrie jemand aus dem dunklen Wasser, weiter draußen. »Hilfe, bitte! Ich …«
    Das Schreien ging im Wasser unter.
    Der Junge mit den Bartstoppeln ließ den Wächter los. »Halt dich selbst fest«, rief er. »Ich hol den anderen!«
    Er richtete sich auf, streifte die Schuhe ab, ließ die Daunenjacke fallen und sprang in das dunkle Wasser. Er kam ungefähr dort wieder hoch, wo er den um sich schlagenden betrunkenen Mann gesehen hatte.
    »Sind das zwei? Sind da zwei reingefallen? Hast du das gesehen? Habt ihr das gesehen?«
    Der Wachmann hing noch immer mit einem Arm an der Kaimauer und brüllte. Mit der anderen hielt er etwas fest, was zweifellos

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