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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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ein Körper war, ein abgewandter Kopf, zwei Arme und eine dunkle Jacke. Es war so schwer. So verdammt schwer. Seine Arme schmerzten, seine Finger starben ab.
    Er ließ nicht los.
    Der junge Mann, der eben ins Wasser gesprungen war, schnappte nach Luft. Der erste Kälteschock war einem stechenden Schmerz gewichen, so heftig, dass die Lunge zu streiken drohte. Der Junge trat so frenetisch Wasser, dass er bis zur Taille hochkam, aber unter sich sah er nur dunkle Tiefe.
    »Da«, rief ein Polizist atemlos am Hafenrand. »Gleich hinter dir!«
    Der Junge drehte sich um. Mehr aus einen Reflex heraus griff er zu. Seine Finger krümmten sich um irgendetwas, und er zog daran. Der Halbertrunkene brach mit einem Brüllen durch den Wasserspiegel, als ob er schon unter Wasser geheult hätte. Der Retter hatte seine Haare fest im Griff. Der betrunkene Nachtwanderer versuchte sich loszureißen und klammerte sich zugleich an den jüngeren Mann. Beide verschwanden. Als sie Sekunden später wieder auftauchten, lag der Ältere auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt, die Beine an der Wasseroberfläche. Er schrie vor Schmerz, weil der Retter seine Haare nicht loslassen wollte, während er ein Seil dreimal um den anderen Arm wickelte, ohne sich zu fragen, wo das hergekommen sein mochte.
    »Hältst du fest?«, rief der Polizist von oben. »Hast du ihn?«
    Der Junge versuchte zu antworten, spuckte aber nur Wasser. Mit der Hand, die das Seil hielt, gab er deshalb Zeichen. »Zieh«, stöhnte er fast unhörbar und schluckte noch mehr Wasser. »Zieh …«
    Nie im Leben hatte er sich vorgestellt, dass Kälte so intensiv sein könnte. Frostnadeln stachen überall zu. Seine Schläfen schmerzten, als versuchte jemand, Nadeln ins Gehirn zu drücken, und seine Nebenhöhlen schienen mit Eis vollgestopft zu sein. Er spürte seine Hände nicht mehr, und für einen Moment der puren Angst glaubte er, seine Hoden seien verschwunden. Es brannte im Schritt, eine paradoxe Wärme breitete sich von den Lenden bis in die Oberschenkel aus.
    Seine Bewegungen wurden langsamer. Seine Augen waren tot, jemand musste sie ausgeschaltet haben. Alles war nur nass, kalt und dunkel. Es konnte nicht mehr als eine Minute her sein, dass er hineingesprungen war. Trotzdem kam ihm der Gedanke, dass das hier das Letzte war, was er jemals erleben würde: die Eier zu verlieren, in der Tiefe des Dezembermeeres, wegen eines besoffenen Trottels auf Aker Brygge.
    Plötzlich war er an Land.
    Er lag auf einer Decke, auf einer Art Alufolie, und jemand versuchte, ihm die Kleider auszuziehen.
    Verzweifelt hielt er seine Hose fest.
    »Ganz ruhig«, sagte ein Polizist, das musste der sein, der ihm die Leine zugeworfen hatte. »Wir ziehen dir die nassen Sachen aus. Gleich wird der Krankenwagen da sein und dir helfen.«
    »Meine Eier«, wimmerte der Junge. »Meine Finger, die …«
    Er wandte sich ab. Zwei Polizisten, jetzt wimmelte es hier von denen, legten einige Meter weiter einen Menschen auf den Boden. Wasser strömte von der leblosen Gestalt, mit der sie sich abmühten. Bis ein Sanitäter mit einer Bahre auf Rädern angelaufen kam. Der ältere Polizist winkte ab, als er helfen wollte, die Leiche ein weiteres Mal umzudrehen.
    »Der ist tot. Kümmere dich um die Lebenden.«
    »Fuck«, stöhnte der Junge und versuchte, sich aufzurichten. »Tot ist der? Hat er’s nicht geschafft?«
    »Das ist nicht der, den du gerettet hast«, sagte der Polizist gelassen, während er sich weiter bemühte, dem Jungen die Kleider auszuziehen. »Das wäre zu spät gewesen. Deiner steht da hinten. Der, der sich gerade die Mütze wieder aufgesetzt hat.«
    Er grinste und schüttelte den Kopf. Er bewegte sich rasch, und der junge Waghals hatte inzwischen begriffen, dass seine Geschlechtsorgane noch vorhanden waren. Willenlos ließ er sich die Kleider vom Leib zerren. Drei Polizisten sperrten die Umgebung mit rot-weißem Band ab, einer legte eine Art Plane über den Körper auf der Bahre.
    »Du-du-du-du da«, sagte der Mann mit der Mütze und kam näher. »W-w-w-wolltest du mich s-s-s-skalpieren, oder w-w-w-was?«
    Er war noch immer vollständig angezogen. Um seine Schultern hatte jemand eine Wolldecke geworfen. Der Mann klapperte nicht nur mit den Zähnen, sein ganzer Körper bebte dermaßen, dass die Tropfen von den Haarbüscheln unter der triefnassen Mütze nur so aufstoben.
    Der Junge auf dem Boden konnte sich an keine Mütze erinnern.
    »Ich h-h-h-hab die Mütze gerettetetetet«, sagte der andere grinsend. »Hab

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