Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
mit anderen reden will. Er will merkwürdigerweise nicht Schnaps trinken, rauchen, Fricassee geniessen, sondern reden, sich äussern können. 19
In den Tagen seines Krankenhausaufenthaltes erreichten ihn die Nachrichten einiger anderer müder Helden: Paul Fechter lagin einer Privatklinik und schrieb deprimierte Briefe, die seine Freundin, die Schriftstellerin Ilse Molzahn, mit einem Strauß aus Veilchen und Christrosen und einem Stück Bernstein ans Krankenbett brachte. Von der Witwe des Verlegers der
Morgue
, A. R. Meyer alias Munkepunke, kam die Kunde seines Todes.
Nach genau zwei Wochen, am 21. Januar, wurde Gottfried Benn entlassen, »muss aber noch 1 Woche ausgestreckt liegen und – Milch trinken«, 20 ehe er seine Wohnung wieder verlassen konnte, brieflich Freunden, Bekannten und der literarischen Welt seine Rückkehr vermeldete – und »abends 2 Glas Beaujolais« 21 trank.
»Kummer im Herzen u. Rummel im Haus«
46
Am Abend des 28. April holten Gottfried und Ilse Nele, die »Blut-Dichteste des Dichters«, 47 am Flughafen Tempelhof ab und brachten sie ins Hotel am Steinplatz. Bereits seit Tagen wurde der Nobelpreisverdächtige in Gamaschen und Homburg mit den traumschweren Augen in den Gazetten, Funkhäusern und Theatern der Republik überschwänglich gefeiert: Thilo Koch malte mit dem
Flug der Eule
für den Norddeutschen Rundfunk ein Hörbild, der Südwestfunk wiederholte die
Drei alten Männer
. Horst Behrend, Leiter der Vaganten Bühne, veranstaltete am 29. einen Abend zu Ehren Benns. Vom
Bonner Anzeiger
über das
Buxtehuder Tageblatt
, den
Wiesbadener
und den
Weser-Kurier
bis zum
Hamburger Echo,
der
Münchner Abendzeitung
, der
Frankfurter Allgemeinen
und der
Süddeutschen Zeitung
usw. usw. feierten sie den
Orpheus aus der Mark
, den
positiven Nihilisten
, den
Sänger in karger Zeit
oder den
lyrischen Patriarchen mit massivem Gehirn
, sie bejubelten den
schöpferischen Pessimismus
, sein
Ja über den Abgründen
und
die entgötterte Welt im Vers
und erinnerten sich ehrfurchtsvoll an Momente persönlichen Begegnens, sei es das disziplinierte Auftreten oder sein unbemerkbar feines Lächeln: »Geborener Beobachter, ein Schweiger. Ein Herr.« 48
Mittlerweile waren Oelzes, Niedermayers und Marguerite Schlüter eingetroffen. Man sah sich zum Abendessen im Hotel, wohin auch Gottfried und Ilse für drei Tage zogen, um den Rummel von ihrer Wohnung fernzuhalten und näher bei den Gästen zu sein.
Wir könnten dann am 2. V morgens alle zusammen frühstücken, meine Frau u. ich gehn dann in die Wohnung u sehn nach, was los ist, von 12–2 Siesta im Hotel, von 4–6 Cocktailparty in der Wohnung, um Punkt 6 wird alles hinauskomplimentiert, u um 8 geben wir ein kleines bescheidenes Souper im Hotel, im engsten Kreis,kaum 12 Personen, wir haben ja kaum Bekannte, die uns näher stehn. Ab 10h Barbesuch ad libitum. 49
Das Souper wurde durch die Senatsfeier in der Amerika-Gedenkbibliothek ersetzt. Gegen elf Uhr kehrte der engste Kreis von etwa zwanzig Gästen wieder zurück ins Hotel zum kalten Büffet, wo man bis nach ein Uhr nachts zusammen war.
Der Goldregen blühte im frisch geharkten Vorgarten der Bozener Straße 20, doch es war ein kalter und grauer Mittwochvormittag, an dem die Benns nach Hause kamen, um die Gratulation von Kultursenator Tiburtius und weitere 80 Telegramme, 200 Briefe und 50 Blumensträuße entgegenzunehmen, darunter auch die Glückwünsche des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Willy Brandt und des Bundespräsidenten Theodor Heuss, der eine Gabe von 2000 Mark ankündigte.
Am Nachmittag trafen die Gäste zur Cocktailparty ein. Neben den bereits Erwähnten trugen sich Hans Egon Holthusen, Hauptredner der Abendveranstaltung, Paul Rittermann, Günter Giefer, Franz Tumler und Ottomar Starke ins Gästebuch ein. Otto Flint aus der Boxerkneipe hatte telegrafiert:
Lieber, guter Gottfried Benn,
schleunigst ich zum Fläschchen renn.
Auf Ihr Wohl ein Gläschen rinnt
bei mir runter – Otto Flint. 50
Als der Jubilar den überfüllten Saal der Amerika-Gedenk-Bibliothek betrat, hätte Benn bestimmt viel dafür gegeben, den Bibliothekssaal gegen die Boxerkneipe, den Sekt gegen Bier und das Abendprogramm gegen die Radioübertragung eines Boxkampfes einzutauschen. Eingerahmt vom Klavierspiel Klaus Billings, der Sonaten von Philipp Jarnach und Boris Blacher vortrug, rezitierte der Schauspieler Walter Tappe aus dem Werk, Joachim Tiburtius sprach für den Senat und Hans
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