Graciana - Das Rätsel der Perle
keinen Anstand im Leib?«
Der Hauptmann fuhr herum, und die buschigen Brauen über seinen tief liegenden Augen schienen sich noch mehr zu sträuben. »Willst du dich für die Kleine anbieten, Betschwester?«, fragte er gereizt. »Zieht sie aus, damit wir sehen, was sie zu bieten hat!«
Das wüste Gejohle der Männer wurde von einer peitschenscharfen Stimme abgeschnitten!
»Pech und Schwefel, Gordien! Hast du meine Befehle vergessen? Treibt die Weiber zusammen und schafft sie fort. Wir haben gesiegt, aber ich möchte nicht, dass Montfort etwas von unserem kleinen Privatkrieg in diesem Kloster erfährt!«
Sogar Graciana spürte in ihrer namenlosen Angst die uneingeschränkte Autorität, die hinter diesem Befehl stand. Nicht einmal der Hauptmann wagte Widerspruch. Der Griff um ihren Arm lockerte sich, und sie konnte das Mieder hastig zusammenzerren. Sie richtete sich auf und sah zu dem Mann hoch, der alle beherrschte. Er saß im Sattel eines grobknochigen Streitrosses und bildete gemeinsam mit ihm eine kompakte, grausame Silhouette vor dem lodernden Feuer.
»Da, stell dich zu den anderen!«
Sie stolperte unter dem unerwarteten Hieb über die eigenen Füße und stürzte erneut hart auf die Knie. Eine helfende Hand streckte sich ihr entgegen, und sie griff blind danach. Es war Schwester Berthe, die ihr aufhalf und sie mütterlich in ihre Arme zog.
»Arme Kleine, ich hatte so sehr gehofft, du seist entkommen, ehe diese Marodeure auftauchten«, meinte sie resigniert.
»Die Mutter Äbtissin? Wo ist sie?«, forschte Graciana, sobald sie wieder sprechen konnte.
»Wir wissen es nicht, Kind«, entgegnete Schwester Berthe bekümmert. »Sie war mit uns in der Kirche. Vielleicht ist sie unter den Schwestern, die sich den Schwertern entgegengeworfen haben. Ich neige zu der Ansicht, dass sie es besser getroffen haben als wir!«
»Aber dies ist ein Kloster«, erwiderte Graciana mit einem Anflug von verzweifeltem Trotz. »Sowohl der Herr von Montfort als auch der Herr von Blois sind christliche Ritter. Sie werden doch nicht das Kloster der heiligen Anna von Auray schänden wollen?«
»Diese Herren vielleicht nicht«, antwortete Berthe schmerzlich. »Aber so, wie es aussieht, sind das hier die Söldner des Herzogs von Cado. Diese Männer halten sich an keinen ritterlichen Ehrenkodex, sie machen ihre eigenen Gesetze: die Gesetze Raub und Mord!«
»Woher ...«
»Der Mann auf dem schwarzen Pferd ist Paskal Cocherel!« Schwester Berthe rang nach Atem. »Der Himmel wird es mir nie erlauben, diesen elenden Schurken zu vergessen. Ich hoffe inständig, dass er irgendwann die gerechte Strafe für seine Verbrechen erhält!«
Graciana vermochte nur mit Mühe, ihre aufgewühlten Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Der verblüffende Hass in Berthes Stimme passte zu dem Hass in einer anderen Stimme, die ihr vor kurzem etwas gestanden hatte. War es möglich, dass ...
»Meine Mutter?«, wisperte sie fassungslos und packte Berthes Arm. »Du weißt von dem, was er meiner Mutter angetan hat?«
Schwester Berthe hob eine raue, schwielige Hand und strich in unerwarteter Zärtlichkeit über Gracianas seidige Wange. Eine Berührung, die sie nie wieder gewagt hatte, seit das Kind erwachsen war. Die sie beide für einen Moment die Schrecken ihrer Umgebung völlig vergessen ließ.
»Wir waren Milchschwestern«, sagte sie mit einem leisen Seufzer, in dem Wissen, dass es keinen Sinn mehr hatte zu schweigen. »Ich ging mit ihr an jenem verhängnisvollen Tag, und ich blieb bei ihr auf ihrem harten Weg. Ich brachte es nicht über mich, das Kloster zu verlassen, nachdem sie ihre letzte Ruhe unter den Steinplatten der Krypta gefunden hatte. Wir mussten sie in aller Heimlichkeit dort begraben, denn du weißt ja, was die Kirche von Selbstmördern hält ...«
Graciana strich sich geistesabwesend eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Schweigsamkeit verriet mehr über den Schock, unter dem sie stand, als alles andere. Die alte Nonne versuchte sie zu trösten.
»Ihre Tante hat dafür gesorgt, dass sie unter dem Gotteshaus ihre letzte Ruhe fand. Ich bin sicher, der Herr wird ihre Sünde vergeben. Es gab keine frommere und sanftere Seele als sie ...«
»Aber sie hat mich allein gelassen«, murmelte Graciana mit einem Anflug von plötzlicher Bitterkeit. Es kam ihr nachgerade so vor, als brächte alle Welt der Toten mehr Liebe entgegen als dem Kind, das nicht darum gebeten hatte, auf diese Welt zu kommen.
»Warum hat sie es dir nach all den Jahren nur
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