Graciana - Das Rätsel der Perle
erlösen.«
Graciana fehlten die Worte. Schockiert begriff sie, dass die Frau im schwarzen Habit ihre Großtante war! Eine Verwandte, die ihr in den vergangenen vierundzwanzig Jahren ihres Lebens jede Umarmung, jeden Kuss und jede Zärtlichkeit verweigert hatte.
»Wie konntet Ihr ...«, stammelte sie aus diesen Gedanken heraus, und die Äbtissin wusste genau, was sie damit sagen wollte.
»Gott liebt seine Kinder, das muss einem jeden von uns reichen«, erklärte sie knapp. »Dir muss es noch mehr als jeder anderen Seele reichen, denn in deinen Adern fließt das böse Blut eines Mannes, der das verheerende Handwerk von Mord und Gewalt ausübt. Da ist eine Empörung in dir, eine Unruhe, die du seinem Erbe verdankst. Deswegen habe ich auch immer noch gezögert, dir die letzten Weihen zukommen zu lassen, obwohl ich dich zu meiner Nachfolgerin ausgebildet habe. Gib mir dein Wort, dass du so schnell wie möglich die Sicherheit eines anderen Klosters suchst, wenn du diese Mauern verlässt. Lege das Gelübde ab, denn du hast die Pflicht, die Tage deines Lebens für dein eigenes Seelenheil und das deiner Mutter im frommen Gebet zu verbringen!«
»Ich soll in ein anderes Kloster?«
Graciana hatte Mühe, zwischen Vorwürfen und Auskünften, zwischen Befehlen und Vermutungen zu unterscheiden. Verwirrt starrte sie die Äbtissin an, die nicht einmal in diesem Moment ein einziges Zeichen der Zuneigung zu ihr erkennen ließ.
»Du hast keine andere Wahl, als dein Leben dem Gebet zu weihen. Wer jedoch in diesen Mauern bleibt, wird sterben!«, verkündete Mutter Elissa gottergeben, und ein schreckliches Krachen, das sogar bis in die Stille des versteckten Gewölbes klang, gab ihr recht. »Du musst leben. Deine Mutter hat gesündigt, als sie Hand an sich legte, sie ist auf deine Gebete angewiesen. Zieh dein Nonnengewand aus, dort in der Truhe findest du die einfachen Kleider einer Magd. Sie werden dir bei deiner Flucht bessere Dienste leisten. Geh durch die Pforte hinter dem Kräutergarten in den Wald und versuche dich so weit wie möglich vom Kloster zu entfernen. Versteck dich! Erst wenn die Straßen wieder sicher sind, versuchst du, so schnell wie möglich das nächste Nonnenkloster zu erreichen. Hier ...«
»Heilige Mutter Gottes!«
Graciana starrte auf die makellose, schimmernde Perle in der Hand ihrer Großtante. Die Äbtissin hatte die Sterne von Armor aus dem Kreuz gebrochen! Sie hatte den Schatz zerstört! Sie hatte alles in Scherben geschlagen! Das Kreuz von Ys ebenso wie ihr Leben!
»Nun nimm schon!«, mahnte die Ordensfrau nervös und horchte nach oben. »Du wirst im Saum des Rockes vermutlich eine Möglichkeit finden, das Juwel zu verstecken. Biete es den Nonnen von Rennes oder den frommen Frauen von Lorient als Mitgift an, dann werden sie dich zweifellos in ihre Reihen aufnehmen. Gott segne dich, Kind und die heilige Anna möge dich auf deinen Wegen beschützen!«
Unter dem strengen Blick der unerbittlichen Klosterfrau schlüpfte Graciana aus der groben Kutte und zog die Flügelhaube vom Kopf. In der erwähnten Truhe fand sie ein verschlissenes und mehrfach geflicktes sauberes Leinenhemd, ein Paar braune Wollstrümpfe mit einfachen Strumpfbändern, Holzpantinen, einen braunen, schweren Wollrock und ein kupferfarbenes Mieder. Ein schwerer, schlammfarbener Umhang mit Kapuze, dessen Gewebe so verfilzt war, dass er mit Sicherheit den schwersten Regenguss abhalten konnte, vervollständigte ihre Erscheinung.
»Beeile dich. Ich fürchte, sie haben das Tor aufgesprengt ...«
Die Äbtissin lief an ihr vorbei die Treppe hinauf, noch ehe die junge Frau mit den Miederverschlüssen zu Rande gekommen war. Graciana hatte derlei noch nie getragen, und die Kerzen waren bereits so weit herabgebrannt, dass sie kaum noch Licht gaben. Sie stopfte hastig die verräterische Perle in eine Lücke des Rocksaumes und füllte den Spalt mit dem Haubenband, das sie nicht mehr benötigte.
Oben an der Treppe gellte eine Frauenstimme auf und brach in entsetzlichem Gurgeln wieder ab. Graciana hörte Waffenklirren und Schreie. Angstvoll drückte sie sich gegen die Wand.
Fliehen? Wie kam die Mutter Äbtissin auf den Gedanken, dass unter diesen Umständen überhaupt noch eine Flucht möglich sein könnte?
1. Kapitel
Die Flammen schlugen aus dem hölzernen Dachstuhl, und ihr Funkenregen fiel auf Schindeln, Strohdächer und trockenes Brennholz. Sogar die Nebelfetzen, die vom kleinen Meer herübergeweht wurden, wurden jetzt zu rötlich purpurnen
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