Granatsplitter
sie mit Schaufeln in einen kleinen Eimer zu heben versuchten, ein umständliches Unternehmen, das sie zugunsten des Sammelns von ungewöhnlich aussehenden Muscheln aufgaben. Wenn jeder einen Haufen von Muscheln gesammelt hatte, tauschten sie. Sie wurden Freunde. Einmal, am Ende des Ebbestrands, blickte Harry auf die See hinaus und zeigte mit der Hand in die Richtung nach Westen und sagte: »There is England.« Das war für ihn sofort zu verstehen, und umso mehr merkte er sich die ganz andere Aussprache des Wortes »England« in englischer Sprache als in deutscher. Es klang so wie die Fahne aussah, eindrücklich.
Als die englische Familie plötzlich weggeblieben war, ohne sich verabschiedet zu haben, und er die Tage am Strand wieder mit der Mutter und ihrer Freundin verbrachte und sich langweilte, hörte er aus ihren Gesprächen, warum die Engländer nicht mehr kamen: Der Krieg stünde bevor. Der Vater, der nicht mitgereist war, hatte telegrafiert, er habe den Stellungsbefehl bekommen, und sie würden von Westen nach Osten verlegt. Er hatte nicht viel Zeit, Harry zu vermissen. Denn plötzlich war es soweit. Der Krieg, von dem er seit einem Jahr hatte reden hören, war da. Als er mit der Mutter in die Stadt zurückkam, hatte sich vieles schon verändert. Es gab sogar eines Nachts zum ersten Mal das Aufheulen der Sirenen, ein Ton, der etwas Schlimmes ankündigte, das dann aber gar nicht kam. Doch war das der Zeitpunkt, als die Jungen Granatsplitter in der Straße entdeckten. Der Fliegeralarm hatte also Flieger gemeldet, die Flakgeschütze der Stadt mussten geschossen haben, sonst hätten sie keine Splitter gefunden. Einige Monate später war dann ab und an das Dröhnen der Motoren und das Aufbrüllen der Geschütze länger zu hören, sodass die Bewohner der Häuser sich allmählich daran gewöhnten, in den Keller zu gehen. Einmal, als er einen Granatsplitter in die Hand eines anderen Jungen legte, damit der ihn anfassen und von allen Seiten betrachten konnte, musste er an Harry denken. Wie sie die Muscheln umgewendet und in ihre Öffnung hineingesehen hatten. Eine Muschel war natürlich kein Granatsplitter, aber das Tauschen machte die gleiche Freude. Man bekam von dem Gleichen etwas Ähnliches, sodass man das Eigene nicht verlor, aber etwas Anderes hinzugewann. Beim Granatsplitter war das Wichtigste, dass es sich um das Stück einer Waffe handelte. Das hatte etwas. Die Älteren sprachen jetzt häufig über Abschussziffern, darüber, wie viele englische Flugzeuge abgeschossen worden seien. Es gab immer jemanden, der das genau wusste.
Ein neuer Tauschhandel kam unter den größeren Jungen auf: das Tauschen von polnischen, französischen und englischen Helmen und Uniformstücken, die von gefangenen Soldaten stammten. Die Kleineren wussten nicht genau, was es damit auf sich hatte. Diese bläulichen oder gelblich-braunen Helme und Uniformjacken mit roten oder blauen Litzen und Stickereien wirkten irgendwie böse, sie sahen so ganz anders aus als die vertrauten grauen Helme und graugrünen Uniformen, die die deutschen Soldaten trugen, wenn sie in ihren Lederstiefeln vorbeimarschierten, dass es auf dem Pflaster knallte, den Helmrand dicht über den Augen, die so vertrauenerweckend geradeaus starrten, auch wenn sie ihre rauhen Lieder sangen mit dumpfen Stimmen und abgehacktem Rhythmus. Er hatte diese graugrünen Soldaten, seit er sie zum erstenmal so starr dahinziehen sah, in gleichem Schritt und Tritt, den einen Arm am Gewehr, den anderen im Rhythmus des Dahinschreitens, immer mit einer unbestimmten Neugier betrachtet, die noch nicht wusste, was sie tun würden. Sie würden in den Krieg ziehen, sie würden die anderen Soldaten mit ihren Gewehren erschießen. Das bedeutete das Wort Krieg. Jetzt stellte er sich nicht mehr eine große Halle vor, in der die grauen oder blauen oder braunen Soldaten gegeneinander schritten. Er wusste nun, es war ein riesiges, unübersehbares Gegeneinander von Menschen und Maschinen.
An einem Wochenende wurde ein merkwürdiges Kriegsspiel auf dem Schulhof gegeben. Alle waren eingeladen. Es gab Suppe und Wurst aus der Gulaschkanone und dann das Spiel. Es hieß »Heckenschützenjagd«. Er wusste nicht, was das heißen sollte. Er fragte und bekam die Antwort: Heckenschützen seien Polacken ohne Uniform. Sie liegen hinter Hecken und erschießen deutsche Soldaten. Am schlimmsten seien die Flintenweiber. Das Kriegsspiel bestand nun darin, dass deutsche Soldaten als polnische Heckenschützen verkleidet
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