Die Barbaren
1.
Der Wind heulte über die Vorberge des Voldend-Gebirges, der Berge-am-Rand-der-Welt, wie die Barbaren sie nannten. Der Tag der Wintersonnenwende stand kurz bevor, und es war als ob die Götter des Frosts und der eisigen Stürme sich mit all ihrer Grimmigkeit auf diesen Festtag vorbereiteten. Und hier in den Wildländern, wo der Winter der große Mörder war für einen Großteil des Lebens, war dieser Sturm einer der schlimmsten des Mondes. Schnee trieb so dicht über die Hänge, daß man keine drei Schritt weit zu sehen vermochte. Es war am Mittag so düster wie in der Abenddämmerung.
Es war so düster wie alle Omen, seit sie zu diesem wahnsinnigen Marsch aufgebrochen waren.
Nottr verfluchte die Entscheidung bei allen Göttern, die ihm in den Sinn kamen. Und er verfluchte Skoppr, den Schamanen.
Seine Männer ertrugen es stoischer. Lange Märsche machten sie immer schweigsam. Ihre barbarische Wildheit, über die in zivilisierteren Gegenden nicht ohne Furcht berichtet wurde, erwachte nur im Kampf. Wenn sie sich in die Schlacht stürzten, hatte Gorgan keine wilderen Kämpfer gesehen, als die Lorvanerscharen der Wildländer.
Aber diesmal würden die Westländer vergeblich auf ihre Überfälle warten, obwohl tiefster Winter war. Aber statt Beute und Nahrung im Westen zu suchen, froren und hungerten sie in einem Land, das die Götter sicher nicht für den Menschen erschaffen hatten.
Und fünftausend Krieger und Kriegerinnen hockten ein Dutzend Tagemärsche südwestlich in ihren Winterlagern und verzehrten die Vorräte, weil Urgats Horden sich nicht entschließen konnten, das Offensichtliche zu tun: sich Nottrs bisher in der Geschichte der Wildländer einmaliger Streitmacht anzuschließen, und tiefer in den Westen vorzustoßen, als jemals zuvor.
Die Omen waren nicht gut.
Und Urgat wollte die Führerschaft selbst. Sie hatten es längst in einem Zweikampf entschieden, wie es üblich war. Doch die Schamanen erhoben Einspruch. Wer Führer solch einer gewaltigen Streitmacht sein sollte, die nicht nur Siege und Eroberungen, sondern auch das Ende der Lebensweise der Lorvaner bringen mochte, das durfte nicht durch den stärkeren Arm oder gar das Glück entschieden werden.
Nicht nur die lebenden Lorvaner durften dies entscheiden, befragt werden mußten auch die Toten und die Ungeborenen.
Die Fetische von fünf Dutzend Schamanen sprachen für Nottr. Nur Urgats Schamanen hatten Zweifel, wie zu erwarten war. Sie forderten ein Zeichen.
In der Ratlosigkeit, die folgte, hatte Nottres engster Berater, der Schamane Skoppr, eine Vision, die er nicht zu deuten wußte. Nur daß es keine Tiere waren, die zu ihm sprachen, und keine Geister, nicht die Boten der Götter und nicht die Stimmen des Windes.
»Es ist ein Zeichen«, murmelte er. »Es ist das Zeichen, das ihr haben wollt.«
»So deute es uns!« verlangten sie.
So aß er erneut vom Alppilz, obwohl die Furcht ihn quälte, denn er war nun einmal dazu da, daß Geister und Dämonen sich seiner bedienten, um sich den Lebenden mitzuteilen. Wieder entfernte er sich von seinem Bewußtsein, während das Gift des Pilzes seine Glieder erschlaffen ließ. Er hörte, wie ein Einhorn zu ihm sprach, doch er achtete nicht darauf, denn die Stimmen, die er voll Furcht suchte, kamen von jenseits der Träume. Wieder verstand er sie nicht, nur daß sie riefen… riefen…
Und hätte nicht der Pilz seine Wirkung verloren, wäre er diesen Rufen gefolgt. So aber wachte er zitternd auf aus seiner Entrückung und sagte mit schnarrender Stimme: »Das Zeichen… es ist in den Bergen-am-Rand-der-Welt.«
Aus diesem einzigen Grund waren Nottr und ein halbes Hundert der besten seines Haufens vor zwanzig Tagen nach Nordosten aufgebrochen, um das Zeichen zu holen, damit das Volk der Lorvaner erkannte, daß es einen Führer hatte, den selbst die Götter guthießen.
Drei Dutzend Männer waren sie und vierzehn Frauen. Die jungen Krieger und Kriegerinnen waren ausnahmslos aus bewährten Viererschaften. Mit den älteren war Nottr seit vielen Monden zusammen geritten.
Skoppr hatte ihn natürlich begleitet. Nottr verzichtete ungern auf seinen Berater, auch wenn er dem Rat des Alten nicht immer folgte. In diesem Fall allerdings hatte der Schamane darauf bestanden mitzukommen.
Eine der Frauen war Nottres Gefährtin Olinga, die ihn seit langem begleitete und als einstige Schamanendienerin im Stamm der Chereber auch Skoppr unentbehrlich geworden war.
Sie war hochschwanger und mochte jeden Tag gebären, was
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