Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
hatte ihr eine schlimme Wunde zwischen Hals und Schulter zugefügt. An dem zerfetzten Rand waren die Schnitte spitzer Zähne zu erkennen, die dort in die Haut eingedrungen waren und sich schließlich mit brachialer Gewalt in das weiche Fleisch des Mädchens gegraben hatten. Sie verlor viel Blut. Daryll war losgerannt, um im Krankenzimmer der Schule nach Mullbinden und etwas zum Desinfizieren zu suchen. Als er zu Mary Jane zurückkehrte, entbehrte deren Haut bereits jeglicher Farbe, und ihr Blick war müde und lethargisch. Daryll konnte eine aufsteigende Panik nur mit Mühe unterdrücken. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer.
Er redete so ruhig wie nur möglich mit ihr, während er ihre Wunde versorgte und ihr immer wieder durch das vom Schweiß feuchte Haar streichelte. Mit tränenverschleiertem Blick küsste er das Mädchen auf die heiße Stirn, hielt sie in den Armen, wie eine Mutter ihr Baby halten würde, und bettete sie unter einen Berg von Wolldecken auf der Matratze, da sich ihre Haut trotz des Fiebers kalt anfühlte.
Als Mary einschlief, ging er los, um die letzten Reste ihres Proviants für sie zu holen. Dabei betete er in jeder Sekunde zu einem Gott, der sich allem Anschein nach von ihm und Mary Jane abgewandt hatte. Er wusste, dass er seine Worte nur deshalb an Gott richtete, um nicht näher über das Unvermeidliche nachdenken zu müssen. Er betete nicht, weil er an diesen Gott glaubte.
Vielleicht hatte Daryll das noch nie getan. Als Kind machte man sich keine Gedanken darum, an was man glaubt oder ob es wirklich einen Gott im Himmel gab. Doch er war kein Kind mehr.
Er war sich sicher, dass er jetzt, in dieser neuen Welt, an keinen Gott mehr glauben konnte, der all die Zerstörung und seine Ängste zuließ, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Er betete zu Gott, um nicht alleine zu sein, einfach nur, um mit jemandem zu reden. Und nicht, weil er sich eine Art Hilfe erwartete.
Wenn Mary wach war und mit trübem Blick an die dunkle Decke des Klassenzimmers starrte, saß Daryll neben ihr im Schneidersitz auf der Matratze und las ihr aus Büchern vor, die sie beide bereits auswendig kannten. Oftmals machte er eine Pause während des Lesens. Zum einen, weil seine Stimme des Öfteren ihren Dienst versagte und sich in ein trauriges Krächzen verwandelte. Zum anderen, weil sein Blick immer wieder zu dem Mädchen glitt. Er beobachtete ihre Brust, deren Atemzüge kaum zu erkennen waren. Ihr Gesicht war so weiß wie die Matratze und erinnerte ihn auf absurde Weise an ihn selbst, wenn er als Kind seiner Mutter beim Backen geholfen und sich unter lautem Lachen Mehl ins Gesicht gerieben hatte. Die meiste Zeit hielt Mary Jane ihre Augen geschlossen, und er war dankbar dafür. Der Anblick ihrer grauen Augen war mehr, als er ertragen konnte.
Seine größte Sorge galt allerdings der Wunde an ihrem Hals. Daryll hatte keine Ahnung, wie man eine Verletzung von dieser Größe behandeln musste. Alles was er tun konnte, war die Wunde mit Desinfektion zu säubern und einen engen Mullverband um den Hals des Mädchens zu legen. Sie hatte sich nicht einmal gegen die Schmerzen gewehrt, die das Mittel beim Säubern der Wunde mit Sicherheit bei ihr auslöste.
Jedes Mal, wenn Darylls Blick auf den Verband fiel, glaubte er etwas mehr Blut in dem Stoff zu erkennen. Keine roten Flecken, wie er eigentlich erwartete, sondern etwas Schwarzes, das ihn an morastigen Sumpf erinnerte und den Verband immer mehr durchtränkte. Er konnte nichts weiter für seine Freundin tun. Das medizinische Buch, das er im Krankenzimmer der Schule gefunden hatte, als er den Mullverband und das Desinfektionsmittel besorgte, war ihm auch keine große Hilfe gewesen. Er verstand das Wenigste, das darin stand, so sehr er sich auch anstrengte. So konnte er nur auf das Unausweichliche warten. Und dieser Gedanke, der sich ihm wie das Feuer eines glühenden Dolches in den Verstand brannte, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er wollte schreien und die Bücher zerreißen, die er Mary Jane vorgelesen hatte. Das Bedürfnis, die gesamte Einrichtung des Klassenzimmers mit Tritten und Faustschlägen zu zerstören, war so groß, dass er sein Verlangen kaum noch zügeln konnte.
Er war wütend auf diese Welt, die aus den Fugen geraten war. Wütend auf sich selbst, weil er es zugelassen hatte, dass sich die Bestie seine Freundin gegriffen hatte und er nicht dazu in der Lage war, ihr nun zu helfen.
Doch die meiste Wut richtete sich gegen Gott.
Es erschien ihm seltsam, wie man plötzlich
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