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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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einmal auf dem leeren Parkplatz um, ehe er Mary Jane an der Hand nahm und mit ihr zum Haupteingang von ›Tenberries‹ ging. Vor den Glastüren blieben sie stehen, schirmten ihre Augen mit beiden Händen ab und starrten in das trübe Zwielicht des Marktes. Ihr Atem beschlug die schmutzigen Scheiben und malte zwei weiße Kreise darauf, die gleich wieder verschwanden.
»Wir sollten versuchen, alles in eine Kiste zu packen. Nur so viel, wie auf unsere Fahrräder passt«, erklärte Daryll und trat einen Schritt von der Tür zurück.
Gerade wollte er sich dem Mädchen zuwenden, als er eine schattengleiche Bewegung im Glas der beiden Schiebetüren erkannte. Er trat einen Schritt zurück und breitete die gespreizten Hände zur Seite hin aus. Das Bild, das er im schmierigen Glas der Ladentür sah, brannte sich in diesen Sekunden wie ein düsteres Gemälde in sein Bewusstsein ein und löschte etwas in ihm für immer aus.
In diesem einen fürchterlichen Augenblick hörte Daryll auf, ein Kind zu sein. Er wirbelte herum, das verzerrte Abbild des Grauens in der Glasscheibe verschwand und machte schreiender Realität Platz.
Alles ging rasend schnell. Wenn er später daran zurückdachte, wusste er, dass sich alles binnen weniger Sekunden abgespielt haben musste. Doch in diesem Moment, vor dem Eingang zu ›Tenberries‹, wo er sich in seinem “alten“ Leben oft Comics und Süßigkeiten gekauft hatte, versank sein Verstand in alptraumhafter Trägheit, als würde sein Körper gemächlich in einem von Nebel zerfressenen Sumpf versinken.
Er sah die Kreatur, die hoch vor ihm aufragte, roch den Geifer, der von grauen Lefzen tropfte und starrte in Augen, in denen sich die Moraste der Hölle offenbarten. Der Schatten, den das Geschöpf wie eine stinkende Decke über ihn warf, erschien ihm kalt und schmeckte nach Aas.
Daryll bewegte sich außerhalb seines Körpers. Er löste sich von seiner Kindheit und wurde zu etwas, das noch nicht vollkommen erwachsen war. Seine Hände griffen nach Mary Jane, deren Körper sich steif und schwer anfühlte. Es gab einen schmerzhaften Ruck in seiner Schulter, als er sie wie eine Puppe hinter sich herzuziehen versuchte. Er schrie etwas – aber vielleicht war es auch Mary, die schrie. Dann hörte er das nasse Reißen von Fleisch.
Das Mädchen stolperte, doch er zog sie einfach hinter sich her. Kein einziges Mal drehte er sich um. Der Gestank folgte ihnen wie die schwarze Welle eines nächtlichen Meeres. Und mit dem Gestank das wütende und hungrige Knurren.
Später war sich Daryll sicher, noch nie in seinem Leben so schnell gelaufen zu sein. Mary Jane wurde mit jedem Schritt leichter. Sie schrie. Er war sich jetzt sicher, dass es ihre Stimme war, die seinen Kopf wie feinste Nadeln ausfüllte.
Sie rannten in den hellen Tag hinaus, ließen die feuchten Schatten des Einkaufsmarktes hinter sich zurück. Daryll schloss die Augen. So schaffte er es vielleicht, die Kreatur davon zu überzeugen, dass sie nicht existieren durfte. Das hatte er als Kind schon so getan. Wenn er sich damals in der Nacht ängstigte, kniff er einfach die Augen noch ein bisschen fester zusammen, so dass das Dunkel noch finsterer wurde und das Böse um ihn herum sich auflöste.
Sie rannten den ganzen Weg zur Schule zurück. Darylls Brust begann zu schmerzen und seine Beine verloren mit jedem Schritt etwas mehr Kraft. Seine Knie verwandelten sich in elastisches Gummi und drohten unter ihm nachzugeben.
Mary Jane, die er weiterhin wie eine willenlose Puppe hinter sich herzog, schrie immer noch. Er glaubte, dass sie seinen Namen rief. Doch in seinen Ohren hämmerte sein Herz, so dass er sich nicht mehr sicher sein konnte, was Wirklichkeit und was grausiger Alptraum war.
Längst war der Gestank der Bestie verschwunden und auch ihr Heulen blieb wie ein fernes Echo hinter ihnen zurück. Doch sie rannten unbeirrt der Schmerzen und der unsäglichen Furcht weiter, bis sie den Schulhof erreichten und durch die schwere Stahltür ins Gebäude gelangten.
Daryll ließ das Mädchen los, griff nach dem schweren Balken, den er im Keller des Hausmeisters gefunden hatte, und verbarrikadierte den Eingang. Erst als er sich Mary Jane zuwandte, die sich heulend in eine Ecke geschleppt hatte, und sah, wie sich eine glänzende Blutlache unter ihrem Körper ausbreitete, brach er in heiße Tränen aus, welche die Welt hinter einem gnädigen Schleier verschwinden ließen.
III
Daryll kümmerte sich den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht um Mary Jane. Die Bestie

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