Grenzen setzen – Grenzen achten
Einswerden mit Gott geschieht. Das Konzil spricht von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Jesus sei wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Göttlichkeit ist in der Menschlichkeit, beide sind dennoch nicht vermischt. Der Mensch löst sich nicht in Gott auf und Gott sich nicht im Menschen. Der Mensch wird eins mit Gott, aber er bleibt er selbst, seiner eigenen Hinfälligkeit und Schwäche ausgeliefert. Nur so wird die mystische Verschmelzung nicht zur Regression, sondern zur Erfüllung unserer Menschwerdung. Wenn wir eins werden mit Gott, wenn das göttliche Leben nicht mehr von unserem menschlichen getrennt werden kann, wenn es aber zugleich unvermischt in uns ist, dann kommen wir zu unserem wahren Selbst, dann werden wir eins mit dem ursprünglichen und unverfälschten Bild Gottes in uns. Die Grenze zwischen Gott und dem Menschen bleibt, auch wenn beide miteinander verbunden sind.
Eine personale Beziehung
Die Grenze zwischen Gott und Mensch ist gerade die Voraussetzung für eine wirkliche Beziehung zwischen Gott und Mensch. Es ist eine Beziehung der Liebe, eine personale Beziehung. Dort, wo diese Beziehung aufgelöst wird, wo der Mensch in Gott hinein versinkt wie eine Welle im Meer, dort gibt es auch keine Schuld mehr. Denn es gibt keine Person mehr, die schuldig werden könnte. Schuld ist dann bloße Einbildung. Für manche ist das faszinierend, denn sie sind die christliche Rede von Sünde und Schuld leid. Sie möchten die engen Grenzen der Schuld überschreiten, verweigern damit aber letztlich ein Bewusstwerden und verwischen ihre Grenzen. Solche Einheitsmystik verliert unmerklich das Gespür für die Grenzen derMenschen. Wer aber Grenzen nicht mehr akzeptiert, überschreitet sie de facto und verletzt sie, ohne es zu merken. Von jemand, der sich dann verletzt fühlt, heißt es allenfalls, er sei nicht erleuchtet. Seine Verletzung sei bloße Einbildung. In der großen Einheit kann es ja keine Verletzung geben. Ich habe oft genug erlebt, wie Menschen, die von der großen Einheit sprachen, kein Gespür für die Grenzen der Menschen um sich herum hatten. Wenn diese anderen bei diesem Einheitsgefühl nicht mitgemacht haben, wurden sie gnadenlos fallen gelassen. Und der, der verletzt hatte, fühlte sich schuldlos. Ein spiritueller Guru sagte zu einer Frau, die eine schwierige Kindheit hinter sich hatte: „Du bist selbst verantwortlich für dein Leid. Du machst dir dein Leid selbst.“ Es war für sie eine tiefe Verletzung. Natürlich gibt es Menschen, die ihr Leid dadurch vergrößern, dass sie an der Illusion eines leidfreien Lebens festhalten, und natürlich gibt es auch die Verstärkung eigenen Leids durch Vorstellungen. Doch diese Frau hatte in ihrem Leben tatsächlich von anderen Menschen Schlimmes erfahren. Statt sich auf sie und ihre Verletzungsgeschichte einzulassen, machte sich der Guru eine Theorie über das Leid zurecht, das eigentlich nicht wirklich, sondern nur in der Vorstellung existiert: eine bequeme und ungerechte Theorie, die kein Gespür für menschliche Beziehung erkennen lässt und blind ist für die anderen und für deren reales Leid. Wer argumentiert, dass der Schrei des Leidenden nur zeige, dass er eben kein spiritueller Mensch sei, der verschanzt sich in Wirklichkeit hinter einem Einheitskonzept und lässt den anderen Menschen nicht an sich heran.
Es ist bequem, die Schuldfähigkeit des Menschen aufzuheben und sich in der Einheit mit Gott zu sonnen. Doch es ist ein gefährlicher Schritt in die Regression, in das Unbewusstsein – und gerade das Gegenteil Jung'scher Individuation. Echte Einheitsmystik, wie Evagrius Ponticus und Meister Eckehart sieverstanden haben, achtet immer auch die Grenze des Menschen. Die christlichen Mystiker sprechen dem Menschen nicht seine Schuldfähigkeit ab, sondern sehen darin sogar ein Zeichen für die Würde des Menschen. Weil der Mensch sich entscheiden kann zwischen Licht und Finsternis, zwischen Leben und Tod, vermag er auch in Schuld zu geraten. Schuld verweist immer auf die freie Person des Menschen. Und im Personsein besteht seine Würde.
Die letzte Grenzüberschreitung
Vom Tod zum Leben überzugehen, das meint für Johannes: von unserer menschlichen Existenz, die sich über die Welt und ihre Maßstäbe definiert, übergehen in die göttliche Welt, in eine Welt, in der wir uns von Gott her sehen, von Gottes Liebe durchdrungen, von Gott bedingungslos angenommen, mit göttlichem Leben begabt. Die größte Grenze, die der Mensch überwinden kann, ist
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