Grenzen setzen – Grenzen achten
der Zeit unterworfen. Das ewige Leben hat keine „Dauer“, sondern ist Leben in jedem Augenblick, Leben in Fülle.
Vom Sinn der Übergangsrituale
In allen Religionen gibt es Übergangsrituale. Sie wollen dem Menschen helfen, eine bestimmte Grenze in seinem Lebensprozess zu überschreiten. In den Ritualen wird eingeübt, was Jesus seinen Jüngern verheißen hat: dass sie im Glauben jetzt schon aus dem Tod zum Leben hinübergehen. Schwellen machen Angst. Denn man weiß nicht, was einen jenseits der Schwelle erwartet. Rituale überwinden die Angst. Wichtige Übergangsrituale begleiten die Geburt des Menschen, sein Erwachsenwerden, den Beginn der Ehe, das Krankwerden und Sterben. Bei jedem Übergang passiert der Mensch eine Grenze. Es ist nichtnur eine zeitliche, sondern auch eine innere Grenze. Indem wir die zeitliche Grenze überschreiten, treten wir in einen neuen Bereich ein. Dieser Bereich wird von den Ritualen immer als innerer Ort gesehen. Die Übergangsrituale wollen uns helfen, aus einem zu eng gewordenen Bereich in den grenzenlosen Raum Gottes hinüberzugehen. In jedem Übergangsritual gehen wir aus dem Todesbereich in das Haus des Lebens über. Wir üben in diesen Ritualen den letzten Überschritt vom Tod zum Leben ein, der uns in unserem physischen Tod erwartet. Im Tod überschreiten wir endgültig die Schwelle zum ewigen Leben, zum göttlichen Leben. Da werden wir für immer im Haus des Lebens und im Haus der Liebe wohnen.
Individuation und Mystik
Gott hat in Jesus Christus auch unsere menschliche Natur mit seinem göttlichen Leben durchdrungen. Er hat die Grenze zu uns Menschen überschritten und ist mit uns eins geworden. Johannes hat mit seinem Evangelium auf die Sehnsucht der Menschen nach Eins-werden geantwortet. Die Sehnsucht, in der mystischen Erfahrung mit Gott zu verschmelzen und alle Grenzen aufzulösen, ist heute erneut erwacht. Dabei laufen wir Gefahr, dass wir in der Grenzenlosigkeit auch unsere eigene Individualität verlieren. Für C.G. Jung ist dieses Verschmelzen als Auflösen der eigenen Individualität ein Rückschritt in die „participation mystique“, wie man sie in der Frühzeit der Völker kannte. Dort gibt es keinen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt. Für Jung ist es Aufgabe der Therapie, die „participation mystique“ aufzulösen, die Symbiose zu zerbrechen, damit der Mensch ganz er selbst werden kann. Jung nennt das den Prozess der „Individuation“. Sie ist, wie Verena Kast herausgearbeitet hat, für ihn ein „Differenzierungsprozess, der die Entwicklungder individuellen Persönlichkeit zum Ziele hat.“ Die Verschmelzungsphantasien sind für ihn ein Rückschritt, eine Regression zur Großen Mutter, mit der man symbiotisch zusammenwächst. Die christliche Mystik hat immer festgehalten, dass bei allem Eins-werden doch der einzelne noch ganz er selbst ist. Sie spricht zwar auch vom Ich-Tod, damit meint sie aber das Loslassen des Egos, den Verzicht auf das egozentrische Vereinnahmen Gottes für sich selbst. Ich-Tod meint: sich in Gott hinein fallenlassen, sich loslassen, damit Gott in einem Wirklichkeit werden kann. Die Begegnung mit dem „Du“ Gottes verlangt, dass ich die Enge meines Egos aufgebe, um mit dem ganz anderen Gott eins werden zu können. Aber in der Einheit bleibt das Wissen um die Dualität von Ich und Du. Es geschieht im Eins-werden mit Gott das, was Martin Buber als Geheimnis echter Begegnung erkannt hat: „Ich werde am Du.“ Ich finde mein wahres Sein erst, wenn ich ausbreche aus dem engen Ego und mich einlasse auf das ganz andere „Du“ Gottes.
Verena Kast meint, Teresa von Avilas mystische Erlebnisse seien Verschmelzungserlebnisse gewesen. Doch sie haben sie nicht daran gehindert, kräftig in dieser Welt zu wirken. Und sie spricht Teresa von dem Vorwurf frei, „nur symbiotisch und nicht individuiert gewesen zu sein“. Für Verena Kast ist es wichtig, dass wir bei der mystischen Erfahrung des Eins-werdens mit Gott zugleich die Grenze zwischen Gott und dem Menschen wahrnehmen. Sonst kommt es zu einer ungesunden Verschmelzung und letztlich zur Auflösung der Person. Das ist aber keine Individuation, keine Selbstwerdung, sondern eine Selbstauflösung. Wenn ich jedoch im Eins-werden mit Gott um die Grenze zwischen Gott und Mensch weiß, dann ist die Erfahrung des Einswerdens eine wichtige Hilfe auf dem Weg zum wahren Selbst.
Das Konzil von Chalzedon hat in einer sehr nüchternen und doch zugleich genialen Formulierung beschrieben, was im
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