Grenzgaenger
Das sollte man dann an geeigneter Stelle tun.»
«Hast recht», lenkte Heinrichs ein, «war ’ne blöde Bemerkung, Günther.»
Und schon wieder krachte es oben. Es hörte sich jetzt an, als ob jemand einen Stuhl umgeworfen hatte.
«Was, um Himmels willen, treiben die denn da oben?» Toppe stand auf, ging zum Fenster gleich neben seinem Schreibtisch und lehnte sich gegen die Fensterbank.
«Liegt der Abschlussbericht der Pathologie von dem Kind vor?»
«Ja, hier hab ich ihn», nickte Breitenegger.
«Und das ist ganz sicher, Günther, das mit dem Milzriss?», fragte Heinrichs.
«Ja. Warum fragst du?»
«Na ja, ich habe das noch mal nachgeschlagen. Da gab es 1963 mal diesen Fall Lecombier in Südfrankreich, in Lesparre, um genau zu sein. Fast identische Geschichte: Vater angeklagt, das Kind getötet zu haben. Todesursache: Milzruptur. Und später hat sich dann herausgestellt, dass das Kind einen Morbus Hodgkin hatte und die Milz sowieso schon im Eimer war.»
Heinrichs war in seinem Element. Er beugte sich weit über seinen Schreibtisch vor, und seine Augen blitzten.
Toppe verbiss sich ein Grinsen. Walter Heinrichs war ein 47 Jahre alter Niederrheiner aus Goch, mehr als korpulent, dabei aber außergewöhnlich agil, was wohl kaum ausblieb, wenn man eine zehn Jahre jüngere Frau hatte und vier Kinder. Das Jüngste war gerade drei Jahre alt, und man hatte sich noch nicht entschieden, ob es wirklich das letzte sein sollte. Heinrichs hatte sein Hobby zum Beruf gemacht. Schon als Junge hatte er sich ausführlich mit Kriminalistik beschäftigt. Er hatte nicht nur, so schien es Toppe immer, sämtliche Kriminalromane, die in der westlichen Welt jemals erschienen waren, gelesen, sondern auch alles, was an Fachliteratur zum Thema Gewaltverbrechen je auf dem Markt gewesen war. Es war Heinrichs’ Tick, immer anzumerken, dass es nichts gab, was nicht schon einmal da gewesen war. Und er verfügte über eine überaus lebhafte Phantasie. Manchmal konnte dies durchaus hilfreich sein – amüsant und spannend war es immer –, aber zuweilen waren seine Gedanken abwegig.
«Nein, Bonhoeffer sagt ganz klar, dass keine Vorschädigung der Milz vorliegt», entgegnete Breitenegger trocken.
Oben fiel wieder ein Stuhl um.
«Herrgott noch mal», rief Toppe und stieß sich von der Fensterbank ab, «jetzt reicht’s mir!»
Er eilte hinaus und die Treppe hinauf.
In der Tür vom Labor blieb er verblüfft stehen.
Van Gemmern stand auf einem einsamen Stuhl mitten im Labor und hielt sich mit beiden Händen an einer Lederschlinge fest, die an einem Deckenhaken hing. Er sah Toppe ungerührt ins Gesicht.
«Sind Sie verrückt geworden?», fragte Toppe, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. «Was soll denn das hier?»
Van Gemmern stieg ruhig von seinem Stuhl, ging zu einem der Labortische und zeigte wortlos auf ein Foto. Toppe sah es sich an. Es musste von dem Selbstmord am Samstag stammen. Man sah zwei baumelnde Beine und einen umgestürzten Stuhl.
«Und?»
Van Gemmern zuckte die Achseln. «Ich habe mittlerweile 44 Versuche mit dem Stuhl gemacht, und ich bin mir jetzt sicher, dass man den, wenn man draufsteht und ihn mit den Füßen wegstößt, niemals in diese Position bringen kann. Das hier», er tippte auf das Foto, «das hier kann kein Selbstmord sein.»
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Drei
«Ach was, hören Sie nicht auf den Grünschnabel, Toppe. Der hat zu viele Krimis gelesen», ließ sich Berns aus dem Hintergrund vernehmen. Er saß dort, die Beine auf einen Labortisch gelegt, und las den ‹Express›.
Berns arbeitete seit vielen Jahren beim Erkennungsdienst, und einige Kollegen hielten ihn für besonders fähig und erfahren. Er war feist und laut, ein lästiger Zeitgenosse, der Arbeit schon von ferne roch und ihr möglichst aus dem Weg ging. Toppe mochte ihn nicht, und es fiel ihm gar nicht ein, auf seine Bemerkung einzugehen.
«Was meinen Sie?», fragte er van Gemmern. «Was ist mit der Position des Stuhls?»
«Na ja, sehen Sie, das ist ein Nachbau dieser Bauhaus-Freischwinger, und die haben einen sehr tiefen Schwerpunkt. Es ist gar nicht so einfach, so einen Stuhl umzukippen. Ich weiß das, ich habe nämlich selbst solche Stühle. Und wenn die wirklich einmal kippen, dann so gut wie nie nach hinten auf die Lehne. Ich habe das jetzt 44-mal versucht, und es ist mir noch nicht ein Mal gelungen.»
Toppe hatte aufmerksam zugehört und nickte nachdenklich. «Wie sind Sie nur darauf gekommen?»
«Ich weiß nicht, aber ich hatte
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