Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
wunderbarer, prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber und Früchte von Gold hingen dazwischen, dass wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der Welt zu sehen war. Sie wussten aber nicht, wie der Baum auf einmal in der Nacht gewachsen war, nur Zweiäuglein merkte es, dass er aus den Eingeweiden der Ziege aufgesproßt war, denn er stand gerade da, wo es sie hinbegraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein: »steig hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab.«
Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen und das geschah jedesmal, so dass es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mogte sich anstellen, wie es wollte. Da sprach die Mutter: »Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen, als Einäuglein.«
Einäuglein rutschte herunter und Dreiäuglein stieg hinauf, aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mogte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich ward die Mutter ungeduldig und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig, wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen und griff nur immer in die leere Luft hinein.
Da sprach Zweiäuglein: »ich will mich einmal hinaufmachen, vielleicht gelingt mir’s eher«, die Schwestern riefen zwar: »du mit deinen zwei Augen, was willst du wohl!«, aber Zweiäuglein stieg hinauf und die goldenen Äpfel zogen sich nicht vor ihm zurück, sondern es war ordentlich, als eilten sie seinen Händen entgegen, also dass es einen nach dem andern abpflücken konnte und einen ganzen Schurz voll mit herunter brachte. Die Mutter nahm sie ihm ab und statt daß sie, Einäuglein und Dreiäuglein, dafür das arme Zweiäuglein hätten besser behandeln sollen, so wurden sie nur neidisch, dass es allein die Früchte holen konnte und gingen noch härter mit ihm um.
Es trug sich zu, dass, als sie einmal beisammen an dem Baum standen, ein junger Ritter daher kam. »Geschwind, Zweiäuglein«, riefen die zwei Schwestern, »kriech unter, dass wir uns deiner nicht schämen müssen« und stießen das arme Zweiäuglein mit Gewalt unter ein leeres Fass, das neben dem Baume stand und stopften die goldenen Äpfel, die es gebrochen, auch darunter. Als nun der Ritter näher kam, war es ein schöner Herr, der bewunderte den prächtigen Baum von Gold und Silber und sprach zu den beiden Schwestern: »wem gehört dieser schöne Baum? Wer mir einen Zweig davon gäbe, könnte dafür verlangen, was er wollte.«
Da antworteten Einäuglein und Dreiäuglein, der Baum gehöre ihnen zu und sie wollten ihm einen Zweig wohl abbrechen. Sie gaben sich auch beide große Mühe, aber sie waren es nicht im Stand, denn die Zweige und die Früchte wichen jedesmal vor ihnen zurück. Da sprach der Ritter: »das ist ja wunderlich, dass der Baum euch zugehören soll und ihr doch nicht Macht habt, etwas davon abzubrechen!«
Sie blieben dabei, der Baum wäre ihr Eigentum; indem sie aber so sprachen, rollte Zweiäuglein unter dem Fasse ein paar goldene Äpfel heraus, so dass sie zu Füßen des Ritters liefen, denn es war bös, dass Einäuglein und Dreiäuglein nicht die Wahrheit sprachen. Wie der Ritter die Äpfel sah, da erstaunte er und fragte, wo sie herkämen; Einäuglein und Dreiäuglein antworteten, sie hätten noch eine Schwester, die dürfe sich aber nicht sehen lassen, weil sie nur zwei Augen habe wie andere gemeine Menschen. Der Ritter aber wollte sie sehen und rief: »Zweiäuglein, komm hervor.«
Da kam Zweiäuglein ganz getrost unter dem Fass hervor und der Ritter war verwundert über seine große Schönheit und sprach: »gewiss, Zweiäuglein, kannst du mir einen Zweig von dem Baum abbrechen.«
»Ja«, antwortete Zweiäuglein, »das will ich wohl können, denn der Baum gehört mir« und stieg hinauf und brach mit leichter Mühe einen Zweig mit seinen silbernen Blättern und goldenen Früchten ab und gab ihn dem Ritter. Da sprach der Ritter: »Zweiäuglein, was soll ich dir dafür geben?«
»Ach«, antwortete Zweiäuglein, »ich leide an Hunger und Durst, Kummer und Not vom Morgen bis zum Abend, wenn ihr mich mitnehmen und erlösen wollt, so wär ich glücklich.«
Da hob der Ritter das Zweiäuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein väterliches Schloss, dort gab er ihm schöne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so lieb hatte, ließ er sich mit ihm einsegnen
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