Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
den Schoß zu legen. Ich konzentrierte mich, konnte spüren, wie die Macht des Schnitts mich erbeben ließ. Ich hob den Arm … und da schälte sich eine Gestalt aus der Finsternis.
Das ist ein Trick , dachte ich, als die Gestalt auf uns zukam. Das muss ein Trugbild sein.
Das Geschöpf bestand aus einem Gespinst von Schatten, sein Gesicht war formlos und zeigte keine Miene. Der Körper schien unablässig zu schwanken und zu verschwimmen und sich dann wieder zusammenzufügen: Arme und Beine, große Pranken, die in angedeuteten Klauen ausliefen, ein breiter Rücken mit zwei Schwingen, die zuckten und ruckten und sich dabei wie ein Tintenfleck ausbreiteten. Das Geschöpf glich einem Volkra, nur war seine Gestalt menschlicher. Und es fürchtete sich nicht vor dem Licht. Es fürchtete sich nicht vor mir.
Das ist nur ein Trugbild , redete ich mir panisch ein. Das ist nicht wirklich. Dieses Wesen verstieß gegen alle Gesetze, denen die Grischa-Mächte gehorchten. Kein Grischa konnte etwas Körperliches hervorbringen; wir konnten kein Leben erschaffen. Trotzdem kam dieses Geschöpf auf uns zu, und die Grischa aus dem Gefolge des Dunklen drückten sich ängstlich gegen die Zimmerwände. Dies war es also, was ihnen so viel Furcht einflößte.
Ich verdrängte mein Entsetzen und bündelte meine Macht. Ich schwang einen Arm, ließ das Licht in einem gleißenden, unbarmherzigen Bogen niedersausen, der das Geschöpf glatt durchschnitt. Ich glaubte kurz, es würde weiter vordringen, aber es begann zu wabern und zu glühen wie eine Wolke voller Blitze und zerplatzte. Ich war kaum zu Atem gekommen, da reckte der Dunkle die Hand, und ein neues Ungeheuer erschien, danach ein zweites und ein drittes.
»Das hast du mir geschenkt«, sagte der Dunkle. »Das ist das Geschenk, das ich auf der Schattenflur erhalten habe.« Sein Gesicht strahlte Allmacht und zynische Freude aus. Aber ich sah ihm auch die Anstrengung an. Was immer er da tat, es kostete ihn viel Kraft.
Maljen und ich wichen zur Tür zurück, während die Wesen auf uns zukamen. Plötzlich schoss eines blitzschnell vorwärts. Maljen führte einen Hieb mit dem Messer. Das Wesen hielt wankend inne, packte Maljen und schleuderte ihn wie eine Puppe beiseite. Das waren keine Trugbilder.
»Maljen!«, schrie ich.
Ich ließ den Schnitt niedergehen und das Wesen verbrannte zu nichts. Aber das zweite fiel rasend schnell über mich her. Als es mich packte, durchfuhr mich der Ekel. Sein Griff fühlte sich an, als würden unzählige winzige Insekten über meine Arme krabbeln.
Das Wesen riss mich von den Beinen und ich begriff, wie sehr ich mich geirrt hatte. Denn es hatte ein Maul – ein zuckendes, gähnend tiefes Loch, das beim Öffnen unzählige Reihen von Reißzähnen entblößte. Und ich spürte sie alle, während sie tief in meine Schulter eindrangen.
Es tat unbeschreiblich weh und ich sackte wie ein nasser Sack auf den Fußboden. Die Schmerzen gingen in endlosen Wellen durch mich hindurch. Ich konnte die Wasserflecken unter der Decke sehen, das hoch über mir aufragende Wesen, das bleiche Gesicht des neben mir knienden Maljen. Seine Lippen formten meinen Namen, aber ich hörte ihn nicht. Ich versank im Strudel der Bewusstlosigkeit.
Das Letzte, was ich hörte, war die Stimme des Dunklen – so deutlich, als würde er neben mir liegen und den Mund gegen mein Ohr pressen, damit nur ich hören konnte, was er sagte: Ich danke dir .
Wieder die Finsternis. In meinem Inneren zieht und zerrt es und ich taste nach dem Licht – vergeblich.
»Trink.«
Ich öffne die Augen. Iwans grimmiges Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld. »Übernimm du das«, knurrt er.
Im nächsten Moment beugt Genja sich über mich. Sie ist schöner denn je, sogar in ihrer zerschlissenen roten Kefta. Träume ich?
Sie drückt etwas gegen meine Lippen. »Trink das, Alina.«
Ich will den Becher wegschlagen, kann die Hände aber nicht bewegen.
Meine Nase wird zugekniffen. Ich reiße unwillkürlich den Mund auf und Brühe rinnt durch meine Kehle. Ich muss husten und spucken.
»Wo bin ich?«, stoße ich hervor.
Eine andere Stimme, kalt und klar: »Schafft sie wieder nach unten.«
Wir brechen in der Kutsche aus dem Dorf auf. Die Straße ist holperig, und auf der Rückfahrt nach Keramzin knallt Ana Kujas kantiger Ellbogen immer wieder gegen meine Rippen. Maljen, der auf der anderen Seite sitzt, weist uns lachend auf alles hin, was wir draußen vorüberziehen sehen.
Das kleine, dicke Pferd zieht geduldig
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