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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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Früher, lange bevor sie die Wahre See befuhren, hatten der Junge und das Mädchen immer wieder von Schiffen geträumt: Schiffe, randvoll mit Geschichten, verzauberte Schiffe mit Masten aus wohlriechendem Zedernholz und mit Segeln aus purem Gold, von Jungfrauen gesponnen. Die Besatzung bestand aus weißen Mäusen, die Lieder trällerten und das Deck mit ihren rosa Schwänzchen schrubbten.
    Die Verrhader war kein Zauberschiff, sondern eine Kogge der Kerch, schwer beladen mit Hirse und Melasse. Sie stank nach ungewaschenen Leibern und rohen Zwiebeln, die laut den Matrosen gegen Skorbut halfen. Die Besatzung fluchte und rotzte und spielte um die Rumrationen. Das Mädchen und der Junge bekamen schimmeliges Brot zu essen, ihre Kabine war eine winzige Kammer, die sie sich mit zwei weiteren Passagieren und einem Fass gepökeltem Dorsch teilen mussten.
    Aber das kümmerte sie nicht. Sie gewöhnten sich an das stündliche Läuten der Schiffsglocke, die Möwenschreie und das Kauderwelsch der Kerch. Das Schiff war ihr Königreich, das Meer ein unendlich breiter Burggraben, der ihnen die Feinde vom Leib hielt.
    Der Junge passte sich dem Leben an Bord so umstandslos an wie allem anderen auch. Während seine Wunden verheilten, lernte er Seemannsknoten zu binden und Segel zu flicken, arbeitete gemeinsam mit der Besatzung an den Tauen. Er kannte keine Angst und kletterte barfuß in die Takelage. Die Seeleute staunten über seine Gabe, Delfine, Rochen und bunt gestreifte Tigersalmler zu erspähen, waren verblüfft, dass er immer genau wusste, wann und wo der seepockige, breite Rücken eines Wals aus den Wellen auftauchen würde. Sie sagten, wenn sie nur halb so viel Glück hätten wie er, würden sie sich eine goldene Nase verdienen.
    Das Mädchen beunruhigte sie.
    Nach drei Tagen auf See wurde sie vom Kapitän gebeten, möglichst unter Deck zu bleiben. Die Matrosen, erzählte er, seien abergläubisch und meinten, eine Frau an Bord würde unheilvolle Winde heraufbeschwören. Über eine heitere, scherzende, lachende Frau, eine, die zum Spaß in die Trillerpfeife blies, hätte sich die Besatzung gefreut. Aber dieses Mädchen stand immer nur starr und stumm wie eine hölzerne Galionsfigur an der Reling, einen Schal um den Hals geschlungen. Dieses Mädchen schrie im Schlaf und weckte alle Matrosen im Vordeck.
    Also blieb ihr nichts anderes übrig, als tagsüber den dunklen Schiffsbauch zu durchstreifen. Sie zählte die Melassefässer, studierte die Seekarten des Kapitäns und nachts suchte sie Schutz in der Umarmung des Jungen. Sie standen auf dem Deck und hielten Ausschau nach Sternbildern: dem Jäger, dem Gelehrten, den Drei Dummen Söhnen, dem Rad mit den leuchtenden Speichen, dem Palast des Südens mit den sechs schiefen Türmen.
    Sie versuchte, so lange wie möglich mit dem Jungen unter Deck zu bleiben, erzählte Geschichten und stellte Fragen. Sie wollte nicht schlafen, weil sie wusste, dass dann die Träume wiederkehren würden. Manchmal träumte sie von den geborstenen Skiffs mit den schwarzen Segeln, von Blut auf den Planken, von Menschen, die in der Finsternis schrien. Noch schlimmer waren die Träume, in denen ein bleicher Prinz seine Lippen auf ihren Nacken drückte, die Hände auf den Reif legte, der ihren Hals umschloss, und ihre Macht aufrief, die daraufhin blendend hell im Sonnenschein aufblitzte.
    Immer wenn sie von ihm träumte, schreckte sie zitternd aus dem Schlaf hoch. Dann vibrierte der Nachhall der Macht in ihrem Körper und sie spürte das warme Licht auf der Haut.
    Der Junge schloss sie fester in die Arme und murmelte ihr leise etwas ins Ohr, damit sie wieder einschlief.
    »Das ist nur ein Albtraum«, flüsterte er. »Irgendwann bist du diese Träume los.«
    Er verstand nicht – sie sehnte sich trotz allem nach ihren Träumen, weil sie nur noch dort ihre Macht gefahrlos anwenden konnte.
    Der Junge und das Mädchen standen an der Reling, während die Verrhader sich dem Land näherte, und betrachteten die Küste von Nowij Sem.
    Schließlich liefen sie durch ein Gewimmel von Masten und gerefften Segeln in den Hafen ein.
    Hier lagen Schaluppen und Dschunken, von den Shu-Han für felsige Küstengewässer konstruiert, bewaffnete Kriegsschiffe und Vergnügungsboote, schwere Koggen und Walfänger der Fjerdan. Auf einer bauchigen Strafgaleere, die bald in die südlichen Kolonien aufbrechen würde, wehte ein Banner mit roter Spitze, das vor Mördern an Bord warnte. Als die Verrhader daran vorbeiglitt, hätte das Mädchen

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