Dark Thrill - Zwei Romane in einem Band: Sommergeheimnisse/Idylle (German Edition)
Nur das Sommergras ist noch da
von den Träumen
früherer Helden.
(Bashô)
Kapitel 1
Samuel Coleman
Das schwache Licht der Nachmittagssonne drang durch das Fenster von Samuel Colemans Büro und ließ die einzelnen grauen Strähnen auf seinem schwarzen Schopf wie Silberfäden erscheinen. Die letzten fünf Tage sorgten dafür, dass er aussah wie siebenundvierzig und nicht wie siebenunddreißig.
Die dunklen Ringe unter seinen Augen trugen ihr Übriges zu seinem mitgenommenen Erscheinungsbild bei. Wie eine lebende Leiche – ja, genauso fühlte er sich.
Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis seine Frau mit den Kindern von München nach Hause kam. Die verbleibende Zeit nutzte Sam, um sein Erlebtes zu notieren. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte er zusammen und lauschte in die unheimliche Leere seines Hauses. Obwohl es natürlich nur die Geräusche von knarrenden Holzdielen oder des Heißwasserspeichers waren, wirkten sie angsteinflößend. Es könnte auch etwas anderes sein.
Aber das war unmöglich, nach allem was passiert war. Oder doch nicht?
Wenn Samuel Coleman eines in letzter Zeit gelernt hatte, dann, dass nichts auf dieser Welt unmöglich war – gar nichts.
Seine Einstellung zum Leben, vor allem aber zum Tod, musste er von nun an überdenken. Nichts ist wie es ist; und schon gar nicht wie es scheint.
Als er sicher war, dass er alleine war, schrieb er weiter, konnte es sich aber nicht verkneifen, einen letzten prüfenden Blick in die Runde zu werfen. Nichts.
Sam nahm das Stück Papier zur Hand und las sich das Geschriebene noch einmal durch, während sich im Westen langsam aber sicher dunkle Gewitterwolken zusammenbrauten.
Es schien, als seien sie ihm gefolgt.
***
»Mein Name ist Samuel Coleman und ich bin glücklich, dass ich noch am Leben bin.
Heute Morgen erst bin ich von Nebraska zurückgekehrt und dank allen Heiligen nun wieder in Frankfurt am Main. Zuhause in meinen sicheren vier Wänden. Das hoffe ich zumindest. Und glauben Sie mir, das meine ich genauso. Ich sitze gerade hier und schreibe diese Zeilen von meinem geliebten rustikalen Schreibtisch aus, wo ich schon so viele Manuskripte verfasst habe. Der dunkelbraune Tisch aus Walnussholz stammt noch von meinem Vater und hat eine lange Reise hinter sich. Genau wie ich. Von Flagstaff, Nebraska, über Boston, Massachusetts, bis Frankfurt, Deutschland. Meine neue Heimat. Ich geh hier nicht mehr weg, das ist so sicher wie das Amen unseres guten alten Isaacs. Da ich ein wenig abergläubisch bin, denke ich, dass es mir nur an diesem Tisch möglich ist zu schreiben. Er ist ein Teil meines Lebens, hat mich überall hin begleitet. Genauso wie manch andere Dinge. Nicht alle davon waren gut, und vieles wünschte ich, rückgängig zu machen. Doch dafür ist es zu spät. All diese Dinge sind tief in mir verwurzelt, in welcher Form auch immer. Sei es nun aus Liebe, Trauer, vor allem aber ist ein Gefühl vorherrschend – Angst.
Pure, nackte Angst in ihrer reinsten Form. Ich spreche nicht von einer flüchtigen Verflucht-ich-hab-angst-vor-Leuten-zu-sprechen-Angst. Meine Angst sitzt tiefer, hat sich wie eine Infektion in meinem Körper ausgebreitet, zerstört mich von Innen heraus. Sie beherrscht mein Denken, schlimmer noch, mein Leben. Diese Angst ist urtümlich, dunkel und böse.
Doch genau dieses Gefühl der Angst und meine sie auslösenden Erlebnisse sollen mich zurück auf die Siegerstraße führen – moralisch vertretbar oder nicht.
Ich werde auferstehen wie Phönix aus der Asche.
Also sitze ich hier, sauge die vermeintliche Stille des Raumes in mich hinein und blicke aus dem Fenster. Da meine Frau Saskia mit den Kindern noch in München ist und erst in ein paar Stunden zurückkommen wird, nutze ich den Tag um das zu verarbeiten, was geschehen ist.
Die Sonne steht im Moment noch am Himmel, aber das wird sich bald ändern. Die dunklen Regenwolken aus dem Westen ziehen eben auf und werden die Stadt vermutlich den ganzen Abend durchnässen. Für mich normalerweise eine schöne Atmosphäre um mich regelrecht in Trance zu schreiben. Normalerweise muss ich in meinem Beruf meine Fantasie anregen, um mir Geschichten auszudenken, doch für das Folgende braucht es keine Fantasie. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Manuskript verfasse, dessen Inhalt nichts Erfundenes darstellt, sondern nackte, grausame Realität. Ich wünschte, dass dies alles meiner Fantasie entsprungen wäre. Aber Wünsche gehen nun mal selten
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