Großmutters Schuhe
Familie zu sein, dieNabe ist aus dem Rad gefallen, die Speichen spritzen in alle Richtungen. Hat sie überhaupt gewusst, was ihre Funktion war in dieser Familie, diese Edith Karmann, geborene Voyac? Herrgott, ich hätte nie gedacht, dass ich sie so vermissen würde. Oft genug hätte ich sie besuchen können und hab’s nicht getan, weil ich ihre ewigen Fragen indiskret fand, weil sie mir auf die Nerven ging, weil sie …
Jetzt kämpfen die Schwiegersöhne um den frei gewordenen Stuhl. Die Töchter haben nämlich darauf verzichtet, für sich selbst und gleich auch für ihre eigenen Töchter und für ihre Enkelinnen. Oft habe ich gehört, wie meine Frau Großmutter ihrer Schwester Rieke zuzischelte: »Mama fällt wieder aus dem Rahmen!« Die beiden fielen nie aus dem Rahmen, die gingen nicht einmal bis auf Rufweite an ihre Grenzen heran, und ihre Töchter mussten perfekt sein, dafür wurden sie auch mit Lob und Geschenken überschüttet, eine schlechte Note auf eine Schularbeit war ein Verrat an den Müttern. Uroma hat sich den Bauch gehalten vor Lachen, als sie mir erzählte, dass Stefanie ihrer Enkeltochter Naomi verboten habe, sie allein zu besuchen. »Ich bin wohl kein Umgang für sie. Spiel nicht mit der Schmuddeloma. Manchmal komme ich zufällig an ihrer Schule vorbei.« – »Und dann«, sagte ich, »trefft ihr euch ganz zufällig in der Konditorei.« Sie nickte. Sie könne doch nichts dafür, dass es dort die besten Topfengolatschen gebe, und sie liebe nun einmal Topfengolatschen.
Von da an nannte ich sie manchmal Schmuddeloma, aber nur, wenn wir allein waren. Meine Mutter hatte keine Einwände gegen meine Besuche, im Gegenteil. Sie selbst ging allerdings nur zu besonderen Anlässen hin, schon als ich noch sehr klein war, fiel mir auf, dass sie in Uromas Gegenwart dasaß wie ein artiges Mädchen, die Knie zusammengepresst,den Rücken gerade. Ja bitte, nein danke, viel mehr sagte sie nicht. Am ersten Geburtstag nach der Scheidung von Papa brachte sie mich mit einem Blumenstrauß zu Uroma. Ich sehe noch die brüske Bewegung, mit der Uroma das Fenster aufriss. »Lilly!«, schrie sie. »Komm sofort herauf!« Kurz darauf klingelte es, Uroma ging selbst zur Tür, als Mama mich sah, riss sie mich an sich und hielt mich so fest, dass ich zu schreien anfing. »Lilly«, sagte Uroma streng, »was zwischen meinem verrückten Enkel und dir schiefgelaufen ist, geht mich nichts an, für mich bist du die Mutter meines Urenkels, zerdrück den Buben nicht. Du bist und bleibst Familie, ob du willst oder nicht, und jetzt sag, ob du Kaffee willst oder Sekt oder beides.« Da fing Mama an zu weinen und Uroma gab ihr eines von ihren riesigen Taschentüchern, weiß mit dunkelrotem Rand und dem aufgestickten Monogramm meines Urgroßvaters, FK, Friedrich Karmann. Das waren die ersten Buchstaben, die ich lesen konnte, ich begrüßte sie wie alte Bekannte auf jedem Schild, auch unter den Schmierereien an den Wänden der Bahnunterführung. Dort versuchte Mama mich immer wegzuziehen, wenn ich mit lauter Kinderstimme stolz las: F…K. Mama und Urgroßmama mochten einander, auch wenn es meist nicht so aussah. Vielleicht waren sie sich zu ähnlich, beide stur wie sonst was, die eine wie die andere. Jede wusste genau, was für die andere gut wäre. Es war richtig, Mama nicht zu verständigen. Hoffentlich geht es ihr besser in diesem Krankenhaus in Ougadougou. Sie wäre imstande gewesen, mit dem Riesengips zu Urgroßmamas Begräbnis zu kommen. Typisch für sie, dass sie sich geweigert hat, mit der Flugrettung heimgebracht zu werden. Eine neue Erfahrung, in einem afrikanischen Krankenhaus Patientin zu sein, hat sie mir ausrichten lassen. Ich glaube, auf manche Erfahrungen kann ich verzichten. Morgenwerde ich sie anrufen, nein, ich schreibe ihr besser, obwohl auch das schwierig ist. Warum frage ich mich, ob sie je zurückkommen wird, jetzt, wo Urgroßmama nicht mehr auf sie wartet? Ich muss zurück zu dieser grässlichen Trauergesellschaft. Trauergesellschaft? Wer trauert da? Urgroßmama hat alle zusammengehalten. Ihre bissigen Bemerkungen haben alle genervt, besonders wenn Fremde dabei waren, wanden sich vor allem ihre Töchter vor Peinlichkeit, bis sie total verknotet waren, nur Urgroßmama strahlte. Zum letzten Geburtstag hab ich ihr einen Stock geschenkt, einen richtigen altmodischen Damenstock mit Silbergriff, und hab gesagt, sie könnte eine Kerbe hineinritzen für jede gut platzierte Bosheit. Da hat sie mir mit dem Stock gedroht.
Abschied
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