Großmutters Schuhe
verhalten noch. Gehört wahrscheinlich dazu, ist mir lieber als diese falsche Betroffenheit. Vielleicht ist sie auch gar nicht so falsch, wie sie mir vorkommt. Der Tod war da, aber er hat eine andere geholt. Grund zum Feiern. Noch einmal davongekommen. Für wie lange? Großmutter und Großtante Rieke stehen jetzt in der vordersten Reihe, aber die können kaum den kalten Wind von den anderen abhalten, wie das die Uroma getan hat. Ich weiß nicht einmal, ob sie an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat. An ein Leben vor dem Tod hat sie geglaubt, das ist sicher. Vom Sterben hat sie nie gesprochen, oder doch, ein oder zwei Mal, und dann hat sie gelacht und erklärt, sie hält es nicht aus, wenn ich so betropetzt dreinschaue. Nie wieder wird jemand betropetzt zu mir sagen. Das Wort gehört zu ihr: Woher kommt es eigentlich?Ich hätte sie fragen können, sie hatte einen so ungeheuren Vorrat an sinnlosem Wissen, wie sie immer sagte. Nur von dem, was sie gerade brauche, habe sie leider keine Ahnung, erklärte sie nicht ohne Koketterie. Fragen kann ich wie eine Dreijährige, setzte sie einmal hinzu. Aber die Antworten werden immer weniger, die jedenfalls, die ich glauben kann.
Wer schießt hier mit Brotkügelchen? Die Buben waren es nicht, die stehen unter der strengen Aufsicht ihrer Mutter. Die Blonde gegenüber grinst mich an, beugt sich vor, da klafft der Ausschnitt ihrer gelben Bluse, als ginge ein Vorhang auf. Braune kleine Brüste hat sie. Ob ich sie nicht mehr kenne? Sollte ich?, frage ich zurück. Ein neues Brotkügelchen trifft mich mitten auf der Stirn. Eine vage Erinnerung taucht auf, eine lange Tafel, ein Mädchen ganz in Rosa, Trinkhalme, meiner ist blau-weiß gestreift, das Mädchen zeigt mir, wie man den Trinkhalm als Blasrohr verwendet. Ich schaffe es beim dritten oder vierten Versuch, treffe Tante Rieke am Ohr. Sie packt und schüttelt mich, meine Mutter und meine Großmutter schimpfen auf mich ein, mich kann man nirgendwohin mitnehmen, es ist eine Schande, ich soll mir ein Beispiel an meiner Kusine nehmen, die dasteht, als ginge sie das alles nichts an, ein Bilderbuchmädchen. Ich bin wütend auf sie, aber ich verrate sie nicht, ihre braunen Haare fallen so weich, ihr Mund ist so rot und so groß. Als sie den Raum verlässt, dreht sie sich halb um, küsst ihren Zeigefinger und pustet in meine Richtung. Ich schlucke, atme ein, bis die Luft mich zu sprengen droht. Später sehe ich sie im Garten auf der Schaukel eng umschlungen mit einem Buben, der einen Kopf größer ist als ich. »Seit wann färbst du dir die Haare?«, frage ich. Sie lacht, bis sie husten muss und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wann kann ich endlichweggehen. Ich sehe sie vor mir in ihrem rosa Kleid mit dem Gänseblümchenkranz in den Haaren, aber ihren Namen weiß ich nicht, will ich gar nicht wissen.
Nach dreizehn Jahren sehen wir uns wieder, und mir fällt nichts anderes ein, als zu fragen, ob sie ihre Haare färbt. Sie gluckst schon wieder, legt ihr ganzes kleines Gesicht in ernsthafte Falten. Was ich studiere, will sie wissen und kann sich gar nicht einkriegen, dass ich ausgerechnet Indologie studiere, wenigstens fragt sie nicht, was ich einmal damit anfangen will, beruflich, stellt allerdings fest, das müsse auch der Grund sein, warum ich nicht rede wie ein normaler Mensch, was immer das in ihren Augen sein mag. Übrigens heiße sie jetzt nicht mehr Pipsi, sondern Patricia, das soll ich mir bitte schön merken. Und ob ich schwul bin, möchte sie wissen. Die Frau macht mich krank. Nicht, dass sie etwas gegen Schwule hätte, fügt sie noch hinzu. Natürlich nicht. Some of my best friends are … Hier lässt sich einsetzen, was du willst, und was du nicht willst auch. Einige von den anwesenden Damen ziehen klebrige Blicke von mir zu ihr, von ihr zu mir. Altweibersommer. Schneckenfäden. Ich stehe auf und gehe hinaus.
Zwei von den Schwiegersöhnen sind damit beschäftigt, ihre Pimmel ordentlich auszuschütteln, als ich das Pissoir betrete, dabei machen sie Gesichter, als studierten sie die Bilanz eines maroden Unternehmens, dem sie den Kredit verweigern werden. Ebenso ernsthaft kontrollieren sie ihre Zippverschlüsse und den Sitz ihrer reinseidenen Krawatten. Im Hinausgehen sagt der eine: »Kopf hoch, junger Mann.« Fehlt gerade noch, dass er mir auf die Schulter klopft. Wirbt er um meine Stimme bei der Wahl zum Familienoberhaupt? Diese Familie braucht kein Oberhaupt mehr, weil sie nämlich mit diesem Tag aufgehört hat, eine
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