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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Öl ausgebraten.
    Die Kusine dreht ständig den Kopf nach der Tür.
Puppet on a string
. Ist die Frau neben ihr ihre Tochter oder eine Pflegerin? Für eine Tochter ist sie zu jung, glaube ich, aber da kann man sich irren. Außerdem weiß ich nicht, ob sie überhaupt eine Tochter hat. Wie klein ihre Hände sind, mit runden, kurz geschnittenen Nägeln, sie flattern wie die Hände einer Katakali-Tänzerin.
    Der Ober hat die Runde um den langen Tisch endlich geschafft, hat alle Bestellungen aufgenommen. Einen Augenblick lang sind alle ruhig, mitten in die Stille schneidet die scharfe Stimme der Kusine: »Wo bleibt denn Ditta schon wieder? Immer kommt sie zu spät, rücksichtslos ist das! Mama hat immer schon gesagt, auf Ditta ist kein Verlass.«
    Köpfe fahren in die Höhe, senken sich sofort, so viele Doppelkinne, Blicke irren zum Nachbarn, zur Nachbarin, hinauf zur Decke, hinunter auf die eigenen Hände. Großtante Rieke räuspert sich, öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Großmama putzt sich die Nase. Eine Fliege surrt laut zwischen Glühbirne und Schirm der Lampe über der Anrichte. »Aber die ist doch tot«, sagt einer von den zwei Buben, die bisher stumm und reglos dagesessen waren, wahrscheinlich von strengen Erwachsenenblicken hypnotisiert.
    Die Kusine stopft ein Stück Semmel in ihren Mund. Jetzt fällt mir doch ihr Name ein, Elvira. »Typisch«, murmelt sie. »Keine Spur von Respekt. Die werden alle noch sehen, wohin ihre sogenannte Erziehung führt. Ich werde es ja Gott sei Dank nicht mehr erleben.« Ich bin schwer in Versuchung, ihr zu sagen, dass ein gut eingeweichtes Semmelbrösel an ihrer Unterlippe klebt, direkt über dem einen dunklen Haar in der Falte zwischen Mund und Kinn. Großtante Rieke wendetsich an die Kusine. »Elvira, wir haben Ditta eben begraben.«
    Elvira macht eine Bewegung, als wollte sie Fliegen verscheuchen, ihr Blick sucht irgendwo in der Ferne Halt, leise und flehentlich sagt sie: »Mit solchen Dingen macht man keine Scherze!«
    »Tut mir leid, Elvira, das ist kein Scherz. Ditta ist vor einer Woche gestorben.«
    Die Falten am Hals der Kusine beginnen zu zittern, ihr kleiner Mund schrumpelt ein zum Blütenansatz einer Kletzenbirne. Zwei gläserne Kuppeln bilden sich über ihren Augen, platzen, rinnen in die Mundwinkel, sie leckt die rechte Träne weg, dann die linke. Plötzlich kichert sie. »Ich hab’s ja immer gesagt. Ditta kommt zu ihrem eigenen Begräbnis zu spät.«
    »Zum eigenen Begräbnis kommt niemand zu spät.« Dieser Triumph in Großtante Riekes Stimme, in dem Blick, mit dem sie die Kusine taxiert, und im Vorübergleiten auch noch meine Großmama. Sie lebt, und neben der Kusine fühlt sie sich groß und stark, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Elvira schnäuzt sich laut in die Serviette, die man ihr um den Hals gebunden hat. Die junge Frau neben ihr löst den Knoten, fasst mit zwei Fingern die Serviette, weiß nicht wohin damit. Wenn ich jetzt aufstünde, könnte ich ihr die Serviette abnehmen und hinaustragen, die nette Kellnerin würde mir bestimmt eine neue geben. Ich bleibe sitzen, schaue zu, wie die junge Frau die Serviette zusammenballt, sich umsieht, sie in das Netz am Rollstuhl steckt. Gewiss ist sie erst seit kurzem Betreuerin der Kusine, es ist ihr offenbar noch furchtbar peinlich, wenn sich die alte Frau danebenbenimmt, ganz als wäre sie dafür verantwortlich. Was Großmama anscheinend auch findet, sie erwürgt gerade ihr Taschentuch.
    Dieses seltsame Lächeln auf dem wächsernen Gesicht, ganz anders als das Lächeln, das ich an ihr kannte. Sehr fremd, abgehoben. Als wüsste sie etwas, das sie uns nie verraten würde. Wer hat die Falten auf Stirn und Wangen geglättet, eigentlich ein junges Gesicht, aber aus Alabaster geschnitten. Ganz außerhalb der Zeit, und sonst haben doch Gesichter so etwas wie eine Generationenähnlichkeit, die liegt nicht nur an den Frisuren. Schön war sie, so schön, dass es wehtat. Es hätte sie gefreut, sich so zu sehen. Einmal sagte sie zu mir: »Du hältst mich vielleicht für eitel, aber ich finde es einfach ärgerlich, wie viele Dinge an mir meinen Schönheitssinn beleidigen.« Sie spreizte die Finger. »Schau dir das an, eine Schildkröte ist nichts dagegen.« Nie zuvor waren mir die Altersflecke und die vielen Falten auf ihren Händen aufgefallen. »Mir gefällst du«, erklärte ich, da lachte sie schallend. »Du hast aber auch gar keinen Geschmack, mein Lieber.«
    Am anderen Ende des Tisches wird jetzt gelacht,

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