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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Bewegung versetzt, zuerst himmelwärts, dann auf ihre gefalteten Hände geblickt und genau das gesagt. Worauf wir beide, Dittaoma und ich, einander anschauten, gleichzeitig zu lachen anfingen und nicht mehr aufhören konnten. »Aber Mama!«, sagte Oma, »Mutter«, stöhnte Tante Rieke, wobei jedes T einen Sprühregen auslöste. Uroma presste beide Hände vor ihren Mund, aber das half nicht, sie prustete, stand auf, reichte mir mit königlicher Geste den Arm und ließ sich hinaus zur Toilette führen. Als sie zurückkam, sagte sie: »War leider schon ein bisschen zu spät, aber nur ein bisschen«, worauf wir beide wieder zu kichern anfingen. Oma und Tante Rieke ließen ihre üblichen gegenseitigenSticheleien und sprachen halblaut voll töchterlicher Anteilnahme darüber, dass Uroma in letzter Zeit Besorgnis erregend abbaue und wie schändlich es sei, dass ausgerechnet ich sie in ihrer Verrücktheit noch unterstütze. Uroma sagte, sie brauche frische Luft und mich als Stütze. Als wir auf der Straße standen, fragte sie: »Hast du die Blicke im Rücken gespürt? Ich fühl mich gespickt wie ein Rehbraten.« Sie tätschelte meinen Arm. Langsam gingen wir den Hügel hinauf, der Ahorn leuchtete gelb, die Buchen goldbraun, die Früchte der Ebereschen waren rot mit einem ganz leichten Stich ins Orange. Die Luft war voll von fallenden Blättern, die mit dem Wind tanzten, dadurch bekam die Landschaft eine ungeheure Tiefe. Zwei strubbelige weiße Wolken ließen den Himmel noch blauer erscheinen. Mit lautem Knall schlug eine Kastanie auf den Asphalt. Uroma blieb stehen, ich hob die Kastanie auf und reichte sie ihr. Als kleine Mädchen hatten sie und ihre Freundin säckeweise Kastanien gesammelt und für die Wildschweinfütterung in den Lainzer Tiergarten gebracht, auf dem Leiterwagen. Das rechte Rad eierte ganz furchtbar, sagte sie, obwohl der Hausmeister immer wieder versuchte, es zu richten. Alle Leute drehten sich nach den Kindern um, sie machten auch genug Krach, besonders auf dem Kopfsteinpflaster. Unter dem Craquelé ihrer Falten sah ich plötzlich das Gesicht der Achtjährigen, die sie einmal gewesen war. Sie rieb die Kastanie zwischen den Fingern, bis die braune Schale noch satter glänzte, drehte sie hin und her und zeigte mir den kleinen Stern, den ein Sonnenstrahl darauf zeichnete. »Den schenk ich dir«, sagte sie und drückte mir die Kastanie in die Hand, so fest, dass ein rotes Mal in meiner Handfläche erschien. Wenn ich wüsste, wo die Kastanie geblieben ist, vielleicht hab ich sie selbst weggeworfen. Kastanien verlieren ja so schnell Farbe und Prallheit, werdenmatt und schrumpelig. Wenn man wüsste, das ist die letzte Kastanie, die ich von diesem Menschen bekomme, würde sie kostbar. Aber man weiß ja fast nie, wann man etwas zum unwiderruflich letzten Mal tut. Würde man achtsamer, wenn einem bewusst wäre, es könnte das letzte Mal sein, der letzte Apfel, das letzte Winken aus dem Fenster? Eigentlich hat sie mir ja den Stern geschenkt, nicht die Kastanie, wenn man’s genau nimmt. »Den«, sagte sie, nicht »die«. Manchmal schafft diese unsere komplizierte Sprache mit ihren Geschlechtszuordnungen doch tatsächlich etwas wie Klarheit.
    Da steht sie und winkt mit erhobenen Händen, ein bisschen übertrieben, damit man es auch sieht, in dem Winken ist fast eine Geste des Segnens, nein, bitte, ich fang gleich an zu heulen, hier doch nicht. Später. Später denk ich an dich.
    Großtante Rieke und ihr Schwiegersohn reden seit mindestens einer Viertelstunde über alles, was sie nicht essen können, weil es ihnen aufstößt, Magendrücken, Zwerchfellhochstand, Sodbrennen verursacht, dazu das ewige Problem mit dem Knoblauch, »heutzutage stinkt ja alles nach Knoblauch«, und dazu noch die Liste des Verbotenen. Wenn ich ihr Arzt wäre, würde ich aus schierer Boshaftigkeit alles verbieten, was sie gern essen. Warum muss ich überhaupt zuhören, was sie sagen, es macht mich nur wütend, ist doch völlig egal, und was geht’s mich an? Einen feuchten Dreck. Mit solchen Leuten muss man verwandt sein. Komisch, unverwandt hat mit verwandt gar nichts zu tun. Oder wahrscheinlich doch. Hat ja alles mit allem zu tun. Aber ich nichts mit denen. Warum regen sie mich auf? Wenn sie etwas gefunden haben, das sie beide verabscheuen, lächeln sie einander an wie Verschwörer, nein, beinahe wie heimliche Liebhaber. Feucht. Na, was sag ich? Beide entscheiden sich seufzend fürSchnitzel. Streng verboten. Hoffentlich in altem, stinkendem

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