Gute Nacht Jakob
mußt ihm morgen unbedingt wieder die Flügel beschneiden lassen«, sagte Opapa, »zumal wir doch in ein paar Tagen an die See fahren!«
»Jawohl, Opapa.«
Am nächsten Morgen brachte ich Jakob zum Vogelhändler und stand mit blutendem Herzen dabei, wie er ihm die Schwungfedern beschnitt. Es war mir, als sähe mich Jakob besonders jammervoll und anklagend dabei an. So klein und dünn und hilflos wirkte er zwischen den fremden, roten Händen, die die Schere führten...
Und dann kam der nächste Tag, jener Tag, den ich nicht vergessen werde, bis an mein Lebensende. Ich kam aus der Schule heiter und guter Dinge heim, die Vorfreude der seligen Ferienzeit im Herzen. Da oben auf dem Balkon saß Jaköbchen und erwartete mich. Auch jetzt, wie immer, flatterte er hoch, aber es wurde diesmal kein Gleitflug. Ich sah, wie er sich mit den gestutzten Flügeln in der Luft überschlug, hörte ein angstvolles Krächzen, und dann lag er auf dem Pflaster, die verstümmelten Flügel ausgebreitet, die Krallen verkrümmt an den Körper gezogen. Ich rannte zu ihm hin: »Jaköbchen — hast du dir was getan —?«
Keine Antwort. Ich hob ihn hoch, das Körperchen war warm, aber der Hals mit dem Köpfchen baumelte schaurig nach hinten.
»Jaköbchen...«, schrie ich wild auf, »um Gottes willen...« Ich nahm seinen Schnabel in die Hand und blies hinein. Der kleine Kopf blähte sich und täuschte trügerisch wiederkehrendes Leben vor. Es kehrte nicht wieder. Die Augen waren gebrochen. Das Jaköble war von mir gegangen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, auf dem Pflaster, in der heißen Nachmittagssonne. Schließlich stand ich auf und rannte, den Vogel an die Brust gepreßt, nach oben. Irgend jemand öffnete mir, ich stürzte ins Zimmer — »Mami... Mami... das Jaköble...«
Opapa war dort und Omama, während die Mama mich auf den Schoß genommen hatte und an sich preßte. Mit Gewalt nahm man mir den Jakob ab, legte ihn auf den Tisch, befühlte ihn, und dann weinten wir, alle fünf. Audi Opapa weinte. Er schneuzte sich fortwährend in ein großes Taschentuch, damit man es nicht sehen sollte. Ich riß das Jaköble wieder an mich.
Die Stunden schlichen klebrig, jede Stunde eine Ewigkeit. Man hatte mich zu Bett gebracht und mir etwas zu trinken gegeben, wahrscheinlich mit einem Schlafmittel darin. Ich ließ meinen toten Vogel nicht aus den Händen.
Jaköbchen war nicht mehr.
Am nächsten Morgen begriff ich es erst gar nicht. Bis ich wieder den toten Körper sah. Er lag neben meinem Bett in einer Pappschachtel, in die man Blumen getan hatte. Niemals wieder würde es in der Küdie lustig krähen, würden kleine Krallenfüßchen den langen dunklen Gang entlangtappen, an die Tür klopfen, würde sich ein schwarzes Köpfchen an meine Wange schmiegen, würde er an meinem Ohrläppchen kauen... nie mehr...
»Wir begraben ihn unten im Garten«, sagte die Mama, »ich habe schon eine Grube gemacht.« Während des Kaffeetrinkens sprach keiner ein Wort. Dann standen wir alle gleichzeitig auf, ich nahm das Kästchen. »Moment mal...«, sagte Opapa und ging an den Soldatenschrank. Er zog eines der Schubfächer auf und kam mit Napoleon wieder.
»Hier... gib ihn dem Jaköble mit, es wollte ihn doch so gern.«
Ich klemmte dem Jaköble Napoleon unter den Flügel, dann schloß ich das Kästchen, wir gingen hinunter und gruben ihn ein. Dann schlichen wir uns wieder nach oben, wie geprügelte Hunde. Meine Füße schienen aus Blei zu sein. Ich hatte ein böses, ein unheimliches Gefühl. Eine Welt schien mir untergegangen, ein Himmel eingefallen zu sein.
Oben machte uns Valeska auf, mit verweinten Augen: »Geheimrat von Schlieven ist gekommen...«, sagte sie.
»Nein«, sagte Opapa, »jetzt nicht... das ist unmöglich...«
Aber da war schon der alte Geheimrat, aus der Bibliothek, wo er gewartet hatte, schoß er mit aufgerissenen Augen auf uns zu:
Opapa sah ihn indigniert an: »Wozu denn, Schlieven... kann jetzt nicht... wir haben... eben...«
Aber der andere hatte ihn am Rockaufschlag: »Ja... haben Sie denn keine Zeitung gelesen? Der österreichische Thronfolger ist ermordet... in Sarajewo... wissen Sie, was das bedeutet, Max?«
Ich schlich mich von den Erwachsenen weg in die Küche. Mir war es jetzt ganz egal, was irgendwas bedeutete. Ich starrte das leere Bauer an — dort lagen noch ein paar Knöpfe, die er sich gestern hereingeschleppt, sein Freßnäpfchen, sein Trinkwasser — ich nahm die Decke und zog sie über das Bauer... Dabei weinte
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