Haben Sie das von Georgia gehoert
Nathan.
»Was?«
»Ich kannich glaum, dass du keine Mucke in dieser Karre hast«, sagte er. »Wasn das für ’ne durchgeknallte Partie, die keine Mucke inner Karre hat?«
»Je näher wir an New Orleans herankommen, desto weniger Englisch kannst du? Ich dachte, das hätten wir längst geklärt.«
Nathan grinste. »Wenn du ein Radio hättest, brauchtest du mich nicht sprechen zu hören.«
»Du würdest dich mit Brother um die Sender streiten«, sagte sie. »Und überhaupt, wir sind in Mississippi. Ich glaube nicht, dass Radiosender hier erlaubt sind.«
»Aber Georgie«, sagte Brother. »Erinnere dich an das Elfte Gebot.«
»Ja, wie, zum Teufel, hieß das noch mal?«
»›Sei lieb.‹«
»Ach ja, stimmt.«
»Das ist gut«, warf Little Mama ein. »Das hab ich euch immer eingeschärft.«
Georgia ließ sich in ein angenehmes Dösen versinken, während die Meilen unter den Rädern dahinrollten. Dieser Teil von Mississippi war eine gerade Straße, gesäumt von Kiefern und noch mehr Kiefern. Die Wüste musste so ähnlich sein, dachte Georgia, so leer, dass die Meilen nur so vorbeiflogen.
Little Mama sagte: »Was glaubt ihr, wohin ihr mich bringt? Ich wünschte bei Gott, ihr würdet es mir sagen.«
»Mama«, erklärte Georgia, »wir fahren nach New Orleans, wie du mit Daddy in euren Flitterwochen. Wir bringen Nathan zurück zu seiner Grandma, und dann drehen wir um und fahren wieder nach Hause.«
Das war das Schöne bei jemandem, der sich an nichts erinnerte: Man konnte verschiedene Versionen der Wahrheit ausprobieren und sehen, welche am besten funktionierte.
Georgia hatte Little Mama nichts von den gelben Klebezetteln an den Möbeln erzählt. Die meisten Sachen gehörten rechtlich gesehen Mama, aber Georgia verfügte über eine Vollmacht, und mehr braucht man nicht.
Nathan tippte ihr auf die Schulter. »Was heißt das, ihr fahrt wieder nach Hause? Ich dachte, du wolltest dableiben.«
»O nein, wir müssen Mama schnell wieder nach Hause bringen.« Georgia suchte seinen Blick im Spiegel und zwinkerte.
Er nickte und ließ sich entspannt zurücksinken.
Es war Ende August und höllisch heiß in Mississippi.
Die Klimaanlage im Civic tat ihr Bestes bei vier Personen auf engstem Raum, plus Whizzy, der zu Brothers Füßen schnarchte.
Georgia schaltete den Blinker ein, als sie sich der Interstate-10-Brücke näherten. Auf der Karte hatte sie gesehen, dass es keine Möglichkeit gab, nach New Orleans zu kommen, ohne über diese lange, lange Brücke über den Lake Pontchartrain zu fahren.
Georgia holte tief Luft. Sie konnte es! Was hatte sie nicht schon alles getan, ohne zu ahnen, dass sie dazu in der Lage war?
An der Auffahrt stand ein pfeilförmiges Straßenschild mit der Aufschrift NEW ORLEANS. Sie umklammerte das Lenkrad und trat aufs Gaspedal.
Einen Augenblick später befanden sie sich auf dem Highway und flogen mit siebzig Meilen pro Stunde dahin. Georgia fragte sich, wovor um alles in der Welt sie sich eigentlich gefürchtet hatte. Nach einem ganzen Tag auf den gewundenen, zweispurigen Landstraßen kam ihr das Fahren auf dem Interstate vor, als flöge sie über eine glatte, schwarze Startbahn.
Die beiden Spuren auf der anderen Straßenseite waren voll von Autos, die aus New Orleans kamen. Konnte das schon der Berufsverkehr sein, um drei Uhr nachmittags? Unglaublich. Was für eine Stadt!
Auf Georgias Seite des Highways fuhren kaum Autos. Was für ein Glück – eine breite, offene Straße, die sie zu Hause willkommen hieß. Alles lief besser als erwartet, wenn man bedachte, wie düster gestern noch alles ausgesehen hatte.
Wenn sie ihrem Herzen folgte, würde sie immer gewinnen,
das wusste sie. So wie jetzt! Frei! Unterwegs auf der Straße in ein nagelneues Leben. Und eine Stadt leerte sich, nur um Platz für sie zu machen.
Georgia lächelte. Ihr neues Leben rief. Sie konnte es nicht erwarten, damit anzufangen.
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
»Georgia Bottoms« bei Little, Brown and Company, New York.
1. Auflage
Copyright © 2011 by Mark Childress
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-641-10464-1
www.goldmann-verlag.de
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