Halbmast
hin. Das Brett wackelte gefährlich hin und her. Dann stand er freihändig.
«Perl, fassen Sie sein Bein!», schrie Carolin.
«Er wird mich mit nach unten reißen, wenn er springt!», rief Doktor Perl zurück. Gott sei Dank war er nun hellwach.
«Himmel nochmal. Ich habe heute auch schon verdammt viel für Sie riskiert!» Carolin warf sich hinter Perls Rücken und umfasste mit beiden Händen Adameks linken Fuß. Sie selbst keilte sich mit den Beinen an der Seilwinde fest, so gut es ging. Perl packte mit zu, er nahm den anderen Fuß. Endlich hatte er verstanden, dass sie es nur gemeinsam schaffen konnten.
Doch Adamek sprang. Er breitete die Arme aus und ließ sich nach vorn kippen.
«Achtung», schrie Perl nur kurz. Sie bekamen ihn zu fassen. Jeder ein Bein. Nur Sekunden später fühlte Carolin, wie viel Kraft es kostete, Adamek zu halten. Lange würde es nicht gehen. Sie hörte Schreie vom Deich her. Gott sei Dank, man schien sie bemerkt zu haben. Trotzdem würde es nicht reichen. Bis tatsächlich Hilfe da war, würde es ewig dauern. Adamek rutschte ein ganzes Stück tiefer. Carolin spürte seinen Knöchel an ihren Daumen. Sein Fuß war nass. Er würde weiter rutschen.
«Es geht nicht!», schrie Perl.
«Es muss gehen! Lassen Sie ihn nicht los!»
Adamek schrie auch, doch sie konnten ihn nicht verstehen, denn er schrie in seiner Muttersprache.
«Wir halten Sie, keine Angst!» Doch wieder verlor sie ein paar Zentimeter von ihm.
«Nimm das Bein da raus, Carolin», hörte sie eine Stimme von ganz weit unten. Wer war das?
Mit einem Mal setzte sich die Seilwinde in Bewegung. Sie musste sich beeilen, ihr festgekeiltes Knie herauszuschieben, sonst würde es gegen das Brett geklemmt. Sie musste sich irgendwo festhalten. Dazu brauchte sie die eine Hand. Wenn sie die jedoch zurückzog, würde Adamek fallen.
«Nimm endlich dein Bein raus, wir werden euch runterholen», kam es wieder von unten. Warum war so schnell Hilfe gekommen? Die Schaulustigen hatten doch eben, vor wenigen Sekunden erst, geschrien. Wer war da? Sie konnte nicht nach unten schauen. Es ging nicht anders, sie ließ Adamek mit der einen Hand los, griff schnell nach einem Eisenbügel und zog das Knie nach vorn. Adamek schrie lauter. Gott sei Dank hatte sie ihn noch. Nicht mehr viel, nicht mehr sicher, aber immerhin noch eine Hälfte des Schuhs. Perl schrie ebenfalls. Er war kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren. Doch das Brett bewegte sich abwärts, langsam und gleichmäßig.
«Ihr seid gleich unten!», hörte sie wieder die Stimme. Es war Pieter, kein Zweifel. Es musste Pieter sein.
«Welcome back to earth!» Das war Sinclair Bess. Was machten die beiden dort unten? Ausgerechnet Pieter und der Millionär.
Festhalten, noch zwei Meter, sie konnte schon den Boden sehen. Dann spürte sie einen leichten Ruck, Adameks Schuh löste sich, sie wollte nachfassen, doch es ging nicht mehr, der Fuß rutschte aus dem kurzen Stiefel. Kurz hing Adamek an einem Bein, weil Perl ein wenig länger durchhielt, dann fiel er kopfüber hinab. Sie schaute hinterher. Gott sei Dank, es war nicht mehr tief. Adamek lag dort unten auf dem Boden, schien seine Arme verletzt zu haben, weil er damit zuerst aufgekommen sein musste. Doch er lebte. Siehatten es geschafft. Erleichtert blickte Carolin zu Doktor Perl, der völlig erschöpft nickte, bevor er den Kopf auf das Brett fallen ließ.
Dann erreichten sie den Boden. Kein Schwanken mehr. Keine Gefahr.
Eine Hand legte sich auf ihren Rücken. «Aufgestanden, wir sind gleich da!»
Sie blickte hoch. Pieter kniete neben ihr. Er hatte noch immer den Schalter in der Hand, mit dem er den Flaschenzug heruntergeholt hatte.
«Wie bist du so schnell hierher gekommen?», fragte sie. Es war nicht mehr viel Stimme übrig, das Schreien in der Kälte hatte sie heiser gemacht.
«Ich habe einen Tipp bekommen.»
«Von Sinclair Bess? Aber woher …»
Er zog sein kariertes Hemd aus und legte es Carolin über die nassen Schultern. «Nein, nicht von ihm. Jemand sagte mir, ich solle nach einem Fensterputzer suchen. Aber wo, vielleicht hast du schon bemerkt, die
Poseidonna
ist nicht gerade übersichtlich.»
«Das habe ich schon öfter bemerkt …»
«Also, kurz überlegt, wo verstecken sich Menschen am ehesten? Wo sie sich auskennen. Ich selbst habe mich auch im Casino versteckt, weil ich dort mehrere Wochen gearbeitet hatte. Und wo arbeitet ein Fensterputzer?»
«Draußen?», fragte Carolin schwach.
«Genau! Euer Glück, dass wir uns
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