Haltlos
unglaublich blau zwischen all den Büschen und Bäumen. Insgesamt war es ein sehr schöner Flecken Erde.
Victoria runzelte die Stirn und fragte: „Wo sind wir hier eigentlich? Ich meine, welches Land?“
Bevor Jaromir antworten konnte, erzählte Hoggi schon munter drauf los: „Wir sind hier in der Einöde in Nordschweden. Die nächste Ortschaft ist mehr als zwanzig Kilometer entfernt, heißt Bönträsk und hat weniger als zehn Einwohner – eigentlich ganz beschaulich. Da wir so weit nördlich sind, scheint die Sonne in dieser Jahreszeit die ganze Nacht. Flora und Fauna sind…“
Jaromir unterbrach den weißen Drachen freundlich: „Vielen Dank, Hoggi, für die Infos. Aber lass Victoria doch erst mal richtig ankommen.“
Der alte Drache legte seinen Kopf schief und blickte verständnislos drein. „Aber sie ist doch schon ganz da!“ Dann hielt er inne, blinzelte dreimal und fragte: „Und überhaupt, seit wann sprechen wir denn Deutsch?“
Jetzt lachte Jaromir schallend. „Mein lieber Hoggi! Für die Menschen ist Latein schon lange eine tote Sprache. Sie lernen es teilweise zwar noch in der Schule, aber kein Mensch benutzt Latein heute noch zur Verständigung!“
„Oh, verstehe, verstehe, verstehe!“ Hoggi lächelte gewinnend. „ Und damit Victoria uns auch versteht, sprechen wir Deutsch – eine sehr gute Gelegenheit für mich, meine Kenntnisse im Neudeutschen zu optimieren.“
Victoria mochte den alten Drachen und meinte grinsend: „Na, dann kannst du statt «optimieren» auch «aufpolieren» sagen, oder «pimpen», wenn du es ganz aktuell haben willst.“
Hoggi wiederholte strahlend: „Pimpen… Sehr schön! Neue Wörter! Wirklich sehr schön!“
Aber dann blickte er auf Jaromir und wurde wieder ernst. „Du siehst nicht gut aus, mein junger Freund, lass mich dich behandeln.“
Jaromir nickte und wandte sich an Victoria: „Du kannst auch gern im Zelt ein Nickerchen machen, aber wie ich dich kenne, willst du das hier um keinen Preis der Welt verpassen, oder?“
Victoria lächelte ihn an. „Ganz richtig! So müde kann ich gar nicht sein, um mir das entgehen zu lassen!“
„Prima, Kleines. Dann setze dich aber wenigstens auf einen der Campingstühle und ruh dich etwas aus.“
Dann trat Jaromir ein paar Schritte zurück und verwandelte sich in seine wahre Gestalt.
Erst jetzt sah Victoria, dass er diverse Verbrennungen und Schrammen hatte, die gar nicht gut aussahen und teilweise noch bluteten. Direkt nach dem Kampf war ihr gar nicht aufgefallen, dass eine seiner großen Schwingen einen langen Riss hatte und seine rechte Flanke ein tiefer Schnitt zierte. Ihr Gefährte sah wirklich schlecht aus, stellte sie erschrocken fest.
Bei dem Anblick furchte sich auch Hoggis Stirn und er murmelte: „Du hättest so aber auch nicht unbedingt durch die Nebel reisen dürfen… naja, es ging wohl nicht anders.“
Jaromir sagte nichts dazu, aber Victoria spürte, dass nicht viel gefehlt hatte, und die Roten hätten sie besiegt. Krann hatte ihre Lage zum Glück nicht richtig eingeschätzt.
Ihr Gefährte seufzte und machte es sich auf der Lichtung bequem. Victoria spürte, wie erschöpft er auf einmal war, jetzt wo sie endlich in Sicherheit waren und die Anspannung von ihm abfiel. Er schloss die Augen und flüsterte ihr müde zu: „Pass genau auf, was er tut. So etwas wirst du so schnell nicht wiederzusehen bekommen.“
Was dann geschah, würde Victoria in ihrem ganzen Leben nie vergessen. Es war wie die Verheißung einer neuen Welt.
Hoggi stellte sich direkt vor Jaromirs Kopf und hob seine feingliedrigen Vorderkrallen. Dann murmelte er etwas vor sich hin. In Victorias Ohren war das schon fast Gesang.
Plötzlich flossen aus seinen Krallenspitzen dünne, in blassen Pastellfarben leuchtende Fäden, die sich in sanften Schwüngen auf ihren Gefährten zubewegten. Sie waren strahlend hell und von einer Schönheit, so etwas hatte Victoria noch nie gesehen. Die schillernden Fäden berührten Jaromirs Verletzungen sanft und sprühten dabei glitzernde Funken.
Sie konnte spüren, dass er sich mit jedem Kontakt der zarten, funkelnden Fäden etwas besser fühlte und sah ungläubig, wie sich seine Wunden langsam schlossen.
Victoria war in Ehrfurcht erstarrt. Sie hatte noch nie einen so wunderbaren, filigranen, eleganten und gleichzeitig doch mächtigen und kraftvollen Zauber erlebt. Die Bewegungen der fragilen Fäden waren formvollendet und nach wenigen Minuten war Jaromir in ein Gespinst von behutsam wogenden
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