Haltlos
Neuankömmlinge waren jedes Mal tief beeindruckt und erstaunt.
Victoria spürte, dass Abrexar mit seinem Rat richtig lag. Es hatte eine ganz andere Wirkung auf die Drachen, wenn sie mit eigenen Augen sahen, wozu Jaromir fähig war. Alle, die in dieser Nach hier gewesen waren, würden wirklich glauben, dass es Gefährten gab – sie hatten sie schließlich selbst gesehen und mit ihnen sprechen können.
Victoria konnte in den Köpfen der Himmelsechsen große Neugier, Erstaunen und Freude erkennen, manchmal vielleicht auch einen Anflug von Neid, aber das war ausgesprochen selten.
Es war gegen fünf Uhr morgens als Jaromir sie anlächelte. „Siehst du, jetzt hast du doch noch deine große glückliche Drachenfamilie bekommen!“
Sie lächelte zurück und blickte mit glänzenden Augen über das Meer von mittlerweile hundert schwarzen, weißen und blauen Himmelsechsen. „Da hast du recht! Es fehlt nur einer zu meinem Glück…“
Ihr Gefährte nickte und wusste, an wen sie dachte.
Genau in diesem Moment rissen über ihren Köpfen die Nebel auf und ein junger schwarzer Drache erschien.
„LENIR!“ , dachten beide freudestrahlend.
Jaromir sendete für alle hörbar: „Komm her, Lenir! Lande gleich bei uns!“
Bereitwillig machten die Drachen Platz und Jaromir begrüßte seinen Freund überschwänglich. Dann erzählte er den Umstehenden in aller Ausführlichkeit, welche wichtige Rolle Lenir in den vergangen Wochen für Victoria und ihn gespielt hatte und vergaß natürlich auch nicht den spektakulären Kampf, bei dem sein Freund für die Gefährten sein Leben riskiert hatte.
Lenir winkte zwar bescheiden ab, genoss die anerkennenden Bemerkungen seiner Artgenossen aber sichtlich.
Victoria wandte sich lachend direkt an ihn: „Lenni, solltet ihr Drachen einen Hang zu Poetik und Heldenliedern haben, so steht hiermit fest, dass du auf alle Fälle dein eigenes Loblied bekommen wirst.“
Lenir sagte nichts, grinste aber stolz von einem Ohr zum anderen.
Dann machten die Geschichten über die Schlacht des Tages ihre Runde. Der Kampf gegen die Roten war von Stunde zu Stunde fürchterlicher und knapper geworden. Die Anzahl der Soldaten war mittlerweile auf sechzig gestiegen und Tylarr bestimmt um fünf Meter gewachsen.
Victoria grinste. „Tja, Jaro… So sehr unterscheidet ihr Drachen euch also doch nicht von uns Menschen. Bei allen Anglern werden die Fische mit jedem Erzählen größer.“
Ihr Gefährte warf lachend den Kopf in den Nacken.
Gegen sechs Uhr morgens kehrte Abrexar zurück und betrachtete höchst zufrieden die Drachengesellschaft, die die Lichtung mittlerweile gut ausfüllte.
Er kam auf Jaromir und Victoria zu und klopfte an ihre Gedankenfenster. „Na, wie sieht es bei euch aus? Habt ihr noch Lust zu feiern oder wollt ihr lieber nach Hause?“
Jaromir lächelte. „So schön es auch ist, von allen bewundert zu werden, Victoria und ich würden uns so langsam wirklich gern zurückziehen.“
Sein Mentor grinste. „Prima, dann können wir ja zurück nach Kiel. Könnt ihr zwei springen?“
Jaromir und Victoria nickten.
Dann sah der alte Schwarze Lenir an. „Und du auch?“
Lenir nickte ebenfalls und antwortete ausgelassen: „Jep! Kann losgehen!“
Abrexar straffte sich und wandte sich mit voller Gedankenstimme an alle auf der Lichtung: „Meine lieben Freunde! Wir sind heute Zeugen eines historischen Ereignisses geworden. Eine zweite Epoche der lange vergessenen Gefährten ist angebrochen und wir alle sind in der ersten Stunde dabei gewesen.
Ich kann nicht sagen, was uns die Zukunft bringen wird, ich weiß aber, dass es für uns nur von Vorteil sein kann, wenn wir die Gefährten in unserer Mitte willkommen heißen. Ich danke euch allen von ganzem Herzen, dass ihr das heute mit Jaromir und Victoria getan habt!“
Hochrufe brandeten auf und Victoria wurde knallrot.
Abrexar fuhr fort: „Unser aller Tag ist lang gewesen und für manche von uns“ – nun sah der alte Schwarze jeden Drachen einzeln an, der bei der Schlacht dabei gewesen war – „war er auch nervenaufreibend und mehr als nur anstrengend! Ich werde nie vergessen, dass ihr heute so selbstlos an unserer Seite gekämpft habt. Ohne euch, euren ungeheuren Mut und eure Opferbereitschaft wären wir jetzt nicht hier und könnten zusammen feiern. Ein Hoch auf die Kämpfer der Gefährten!“
Wieder brandeten Hochrufe auf und diesmal brüllten Jaromir und Victoria lautstark mit.
Abrexar seufzte betont, lächelte und sendete dann etwas leiser
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