Der verbotene Fluss
PROLOG
Der Mond schien fahl in jener Nacht. Die Frau ging über den Rasen, der noch nass war vom Regen, vorbei an der Schaukel unter einer Ulme und verschwand zwischen den Bäumen, die das Haus wie stumme Wächter umgaben. Ihr Kleid schleifte über den Boden und hatte sich bis eine Handbreit über dem Saum dunkel gefärbt. Sie achtete nicht auf die Steinchen, die sich in ihre nackten Fußsohlen bohrten. Sie öffnete das schmiedeeiserne Tor in der Mauer und ging wie unter einem Zwang weiter, den Weg entlang und tiefer in den Wald hinein.
Es war still, als wären alle Lebewesen vor dem blassen Licht des Mondes geflohen. Einmal raschelte es leise – vielleicht eine Maus, die durch das Laub vom letzten Herbst huschte. Ansonsten hörte sie nur ihre eigenen Schritte auf dem weichen Boden.
Sie zog den Schal enger um die Schultern. Das Mondlicht malte geisterhafte Schatten auf die glatte Rinde der Bäume. Sie kannte den Wald wie ihr eigenes Haus, und als ein Zuhause hatte sie ihn stets empfunden. Jeder Busch rief nach ihr, jede Wegbiegung schien vertraut. Und doch war etwas anders.
Sie drehte sich um, als sie ein Geräusch hinter sich hörte, sah aber nur die Schatten der knorrigen Eiben, die ausladenden Äste, die sich wie krumme Arme nach ihr reckten. Verbarg sich dort jemand, der ihr heimlich folgte? Sie horchte in die Stille, doch nichts. Sie versuchte, ruhig zu atmen und die Schritte im Rhythmus ihres Atems zu setzen, einen nach dem anderen, es war nicht mehr weit.
Dann glitt sie unvermittelt auf dem feuchten Laub aus und konnte sich gerade noch an einem Baumstamm abstützen. Ihr Herz schlug heftig. Sie biss die Zähne aufeinander und schloss für einen Moment die Augen. Auf einmal spürte sie die Kälte ihrer Füße, die eisige Feuchtigkeit, die hochstieg zu den Knöcheln, an den Beinen emporkroch, die Knie erreichte …
Sie zwang sich weiterzugehen. Dies war ihr Wald, er hatte ihr schon als Mädchen gehört. Er war immer ihr Freund gewesen, vor ihm würde sie sich nicht fürchten. Als sich die Bäume lichteten, blieb sie stehen und holte tief Luft. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute empor zum Himmel, zum Mond. Dann breitete sie die Arme aus, als wollte sie die Nacht umfassen.
1
September 1890, Dover
Charlotte Pauly stand an der Reling und blickte über das graue Wasser, wo aus dem Dunst allmählich ein weißer Schimmer auftauchte. Beim Näherkommen schien sich wie von selbst ein Bild zu formen, nahmen die verschwommenen Konturen Gestalt an und wurden zu einer breiten Kette weißer Klippen, gekrönt von noch sommerlich grünen Wiesen. Es sah aus, als hätte eine gewaltige Axt ein Stück Land mit einem Hieb abgetrennt, sodass sich das Übriggebliebene nicht sanft zum Ufer hin absenkte, sondern abrupt an der Meeresküste endete. Charlotte stellte sich vor, wie das abgetrennte Stück ins Meer gekippt und inmitten einer gewaltigen Welle versunken war.
Die weißen Klippen wirkten nicht abweisend, sondern winkten sie herbei, luden sie ein in dieses Land, das ihr neues Zuhause werden sollte. Charlotte atmete tief durch, um die widerstreitenden Gefühle, die in ihr tobten, zu besänftigen. Vorfreude, Anspannung, Heimweh, Entschlossenheit, Zweifel – all das kämpfte in ihrem Inneren um die Oberhand. Sie spürte, wie das Land hinter ihr, der Kontinent, den sie verlassen hatte, sanft an ihr zog und sie gleichzeitig fortstieß. Natürlich war Deutschland ihre Heimat, dort hatte sie ihr bisheriges Leben verbracht, und der Ge danke, vorerst nicht dorthin zurückzukehren, nicht mehr die vertraute Sprache zu hören, lag wie ein Schatten auf ihrer Seele. Andererseits hatten die vergangenen Monate Wunden hinterlassen, die in der Heimat nicht verheilt wären. Die Suche nach einer Stelle in England, der Abschied von ihrer Familie, das Packen der Koffer und das Buchen der Überfahrt nach Dover waren dringend nötig gewesen, rasche Schnitte, die einem langsamen, schmerzhaften Zerreißen vorzuziehen waren.
Ihre Mutter hatte kein Verständnis für ihren Schritt gezeigt. »Was ist denn geschehen, Kind?«
Charlotte hatte nur den Kopf geschüttelt.
»Du kannst nicht einfach fortlaufen, weil du unglücklich oder mit deiner Stellung unzufrieden warst, das ist unvernünftig. Du hättest dir eine neue Arbeit anderswo in Deutschland suchen können. In Bayern vielleicht. München soll sehr schön sein, dann hättest du mit den Herrschaften in die Alpen oder nach Italien reisen können …«
Um weitere unerwünschte
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