Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
kann.
Um den Artikel auf einer Innenseite weiterlesen zu können, mußte Bosch die Zeitung wieder umfalten. Für einen Moment wurde er von seinem Foto abgelenkt, das dort abgedruckt war. Es war ein altes Bild von ihm, das aus einem Verbrecheralbum hätte stammen können. Das gleiche Foto zierte seinen Dienstausweis. Irgendwie ärgerte ihn das Bild mehr als der Artikel. Es war eine Verletzung seiner Privatsphäre, sein Foto zu veröffentlichen. Dann versuchte er sich wieder auf die Zeilen zu konzentrieren.
Die Rechtsabteilung der Stadt hat die Verteidigung von Bosch übernommen, da er in Ausübung seines Dienstes geschossen hat. Falls der Klägerseite ein Schadenersatz zuerkannt werden sollte, wird dies von den Steuerzahlern der Stadt getragen werden müssen, nicht von Bosch.
Churchs Gattin, Deborah, wird von der Bürgerrechtsanwältin Honey Chandler vertreten, die sich auf polizeilichen Amtsmißbrauch spezialisiert hat. Chandler erklärte, daß sie vor der Jury den Beweis dafür erbringen werde, daß Bosch derartig fahrlässig gehandelt habe, daß der tragische Tod Churchs unvermeidbar war.
»Detective Bosch hat sich wie ein Cowboy aufgeführt, und ein Mann mußte deshalb sterben«, sagte Chandler. »Ich bin mir noch nicht darüber im klaren, ob es nur Fahrlässigkeit war oder ob dahinter etwas Bösartigeres steckt; das wird sich im Prozeß herausstellen.«
Den letzten Satz hatte Bosch mindestens sechs Mal gelesen, seit er die Zeitung in der ersten Gerichtspause bekommen hatte. Bösartig. Was meinte sie damit? Er bemühte sich, sich nicht davon beunruhigen zu lassen. Es war klar, daß Chandler auch ein Zeitungsinterview dazu benutzen würde, um ihn psychologisch zu treffen. Trotzdem glaubte er, daß es ein Warnschuß war. Er wußte, es würde noch mehr kommen.
Chandler sagte weiterhin, sie würde die Stichhaltigkeit der von der Polizei gesammelten Beweise, daß Church der Puppenmacher war, widerlegen. Sie erklärte, Church, Vater von zwei Töchtern, sei nicht der von der Polizei gesuchte Serienmörder gewesen. Die Polizei habe ihn nur als solchen gebrandmarkt, um das Fehlverhalten von Bosch zu vertuschen.
»Detective Bosch tötete kaltblütig einen unschuldigen Menschen«, sagte Chandler. »Mit dieser Bürgerrechtsklage tun wir das, was die Polizei und die Staatsanwaltschaft unterließ: die Wahrheit ans Licht bringen und Norman Churchs Familie Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
Bosch und der ihn verteidigende Anwalt der Stadt Rodney Belk verweigerten jeden Kommentar für diesen Artikel. Außer Bosch werden folgende Zeugen in dem ein bis zwei Wochen dauernden Prozeß aussagen …
»Kleingeld, Kumpel?«
Bosch blickte von der Zeitung auf und sah das verschmutzte, aber bekannte Gesicht des Obdachlosen, dessen Revier die Stufen vor dem Gericht waren. Jeden Tag während der Auswahl der Geschworenen hatte Bosch ihn hier beobachtet, wie er seine Runde machte und um Geld oder Zigaretten bettelte. Er trug ein abgewetztes Tweedjackett über zwei Pullovern und Kordhosen. In einem Plastiksack schleppte er seine Habseligkeiten mit sich und einen riesigen Pappbecher, den er bei der Kollekte den Leuten unter die Nase hielt. Außerdem hatte er einen Block mit gelbem Papier bei sich, wie sie von Anwälten benutzt werden, der voller Notizen war.
Instinktiv klopfte Bosch seine Taschen ab und zuckte mit den Schultern. Er hatte kein Kleingeld.
»Ich würde auch einen Dollar nehmen.«
»Ich hab’ keinen extra Dollar.«
Der Obdachlose wandte sich ab und schaute in die Tonne. Gelbe Zigarettenkippen bedeckten den Sand wie Krebsgewächse. Er klemmte den gelben Schreibblock unter den Arm und begann das Angebot zu sichten. Wenn die Kippen noch einen Zentimeter Tabak enthielten, steckte er sie ein. Ab und zu fand er noch fast ganze Zigaretten und machte ein klickendes Geräusch mit dem Mund, um seiner Freude über den Fund Ausdruck zu geben. Die Früchte der Kippenernte warf er dann in den Pappbecher.
Glücklich über seinen Fund, trat der Mann von dem Kübel zurück und blickte zur Statue hinauf. Dann schaute er zu Bosch hinüber, zwinkerte mit den Augen und begann seine Hüften in der obszönen Pantomime eines Geschlechtsakts zu wiegen.
»Wie findest du mein Mädchen?« fragte er. Dann küßte er seine Hand und streckte sie nach oben, um die Statue zu streicheln.
Bevor Bosch eine Antwort einfiel, meldete sich sein Piepser am Gürtel. Der Obdachlose machte zwei Schritte zurück und hob seine Hände, als wolle
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