Harry Potter und der Halbblutprinz
erzeugen, aber dennoch sollte Lucius abwarten, bis er von Voldemort die endgültige Anweisung bekam, und die hat er nie erhalten, denn Voldemort verschwand, kurz nachdem er ihm das Tagebuch gegeben hatte. Zweifellos dachte er, Lucius würde es nicht wagen, etwas anderes mit dem Horkrux zu tun, als ihn sorgfältig aufzubewahren, doch er verließ sich zu sehr auf Lucius’ Angst vor einem Herrn, der seit Jahren fort war und den Lucius für tot hielt. Natürlich wusste Lucius nicht, was es mit dem Tagebuch wirklich auf sich hatte. Ich nehme an, Voldemort hatte ihm gesagt, das Tagebuch würde bewirken, dass sich die Kammer des Schreckens von neuem öffnete, da es geschickt verzaubert sei. Hätte Lucius gewusst, dass er einen Teil der Seele seines Herrn in Händen hielt, dann hätte er es zweifellos mit mehr Ehrerbietung behandelt – aber stattdessen führte er tatsächlich den alten Plan für seine eigenen Zwecke aus: Indem er das Tagebuch Arthur Weasleys Tochter unterschob, hoffte er, mit einem Streich Arthur in Misskredit zu bringen, meine Entlassung aus der Schule zu bewirken und ein schwer belastendes Objekt loszuwerden. Ach, der arme Lucius … in Anbetracht der Wut Voldemorts, dass er den Horkrux zu seinem eigenen Nutzen verschwendet hat, und nach dem letztjährigen Fiasko im Ministerium würde es mich nicht wundern, wenn er insgeheim froh ist, dass er sich im Augenblick sicher in Askaban befindet.«
Harry saß einen Moment lang nachdenklich da, dann fragte er: »Wenn seine Horkruxe also alle zerstört sind, dann könnte Voldemort getötet werden?«
»Ja, ich denke schon«, sagte Dumbledore. »Ohne seine Horkruxe ist Voldemort wohl ein sterblicher Mensch mit einer verstümmelten und geschwächten Seele. Vergiss jedoch nie, dass seine Seele zwar unheilbar beschädigt sein mag, sein Gehirn und seine magischen Kräfte jedoch intakt bleiben. Es bedarf sicher außergewöhnlicher Fähigkeiten und Kräfte, einen Zauberer wie Voldemort zu töten, selbst wenn ihm seine Horkruxe fehlen.«
»Aber ich habe keine außergewöhnlichen Fähigkeiten und Kräfte«, entfuhr es Harry unwillkürlich.
»Doch, die hast du«, sagte Dumbledore bestimmt. »Du hast eine Macht, die Voldemort nie besaß. Du kannst –«
»Ich weiß!«, sagte Harry ungeduldig. »Ich kann lieben!« Nur mit Mühe verkniff er es sich, noch hinzuzufügen: »Na und?«
»Ja, Harry, du kannst lieben«, sagte Dumbledore, der den Eindruck machte, als wüsste er sehr genau, was Harry eben fast gesagt hätte. »Und das ist, nach all dem, was dir zugestoßen ist, großartig und bemerkenswert. Du bist noch zu jung, um zu verstehen, wie ungewöhnlich du bist, Harry.«
»Wenn also die Prophezeiung behauptet, ich würde ›Macht besitzen, die der Dunkle Lord nicht kennt‹, heißt das einfach – Liebe?«, fragte Harry ein wenig enttäuscht.
»Ja – einfach Liebe«, sagte Dumbledore. »Aber Harry, vergiss nie, dass das, was die Prophezeiung behauptet, nur bedeutsam ist, weil Voldemort es bedeutsam gemacht hat. Das habe ich dir am Ende des letzten Jahres gesagt. Voldemort hat dich als die Person ausgesucht, die für ihn am gefährlichsten sein würde – und damit hat er aus dir die Person gemacht, die für ihn am gefährlichsten sein würde!«
»Aber das läuft auf dasselbe –«
»Nein, tut es nicht!«, sagte Dumbledore und nun klang er ungeduldig. Er deutete mit seiner schwarzen, abgestorbenen Hand auf Harry und sagte: »Du misst der Prophezeiung zu viel Bedeutung bei!«
»Aber«, stotterte Harry, »aber Sie sagten doch, die Prophezeiung –«
»Wenn Voldemort nie von der Prophezeiung gehört hätte, wäre sie dann in Erfüllung gegangen? Hätte sie dann irgendetwas bedeutet? Natürlich nicht! Glaubst du, jede Prophezeiung in der Halle der Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen?«
»Aber«, erwiderte Harry verwirrt, »aber letztes Jahr, da sagten Sie, einer von uns würde den anderen töten müssen –«
»Harry, Harry, nur weil Voldemort einen schweren Fehler gemacht hat und auf Professor Trelawneys Worte hin handelte! Wenn Voldemort deinen Vater gar nicht ermordet hätte, hätte er dann ein starkes Verlangen nach Vergeltung in dir geweckt? Natürlich nicht! Wenn er deine Mutter nicht gezwungen hätte, für dich zu sterben, hätte er dir dann einen magischen Schutz verliehen, den er nicht durchdringen konnte? Natürlich nicht, Harry! Verstehst du nicht? Voldemort hat sich seinen schlimmsten Feind selbst geschaffen, genau so, wie es Tyrannen überall tun!
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