Harry Potter und der Halbblutprinz
sagen sollen …
Und dann, ohne Vorwarnung, überwältigte sie ihn, die grauenvolle Wahrheit, umfassender und unleugbarer als bisher. Dumbledore war tot, war nicht mehr … Er umklammerte das kalte Medaillon in seiner Hand so fest, dass es schmerzte, doch er konnte nicht verhindern, dass ihm heiße Tränen aus den Augen quollen: Er wandte sich ab von Ginny und den anderen und starrte über den See, hinüber zum Wald, während der kleine Mann in Schwarz weiterleierte … zwischen den Bäumen bewegte sich etwas. Auch die Zentauren waren gekommen, um Dumbledore die letzte Ehre zu erweisen. Sie kamen nicht ins Freie, aber Harry sah sie völlig reglos dastehen, halb verborgen im Schatten, die Bogen hingen ihnen an den Seiten herab und sie beobachteten die Zauberer. Und Harry erinnerte sich an seinen ersten alptraumhaften Ausflug in den Wald, an das allererste Mal, dass er jenem Etwas begegnet war, das damals Voldemort war, wie er ihm gegenübergestanden hatte und wie er und Dumbledore wenig später darüber gesprochen hatten, wie man eine Schlacht schlagen sollte, die wahrscheinlich verloren war. Es war wichtig zu kämpfen, hatte Dumbledore gesagt, und immer wieder zu kämpfen, denn nur dann konnte das Böse in Schach gehalten werden, wenn auch nie ganz ausgelöscht …
Und Harry saß da in der heißen Sonne, und er sah ganz deutlich, wie die Menschen, denen er etwas bedeutete, sich einer nach dem anderen vor ihn gestellt hatten, seine Mutter, sein Vater, sein Pate und schließlich Dumbledore, alle entschlossen, ihn zu schützen; aber nun war das vorbei. Er konnte es nicht zulassen, dass noch jemand sich zwischen ihn und Voldemort stellte; er musste sich für immer von der Illusion verabschieden, die er schon im Alter von einem Jahr hätte verlieren müssen: dass die beschützenden Arme der Eltern ihn vor allem Unheil bewahren würden. Es gab kein Erwachen aus diesem Alptraum, niemand flüsterte ihm im Dunkeln tröstlich zu, dass ihm doch nichts passieren könne, dass sich alles nur in seiner Phantasie abspiele; der letzte und größte seiner Beschützer war gestorben, und nun war er so allein, wie er es noch nie gewesen war.
Der kleine Mann in Schwarz hatte endlich aufgehört zu reden und seinen Platz wieder eingenommen. Harry wartete darauf, dass sich jemand anderes erhob; sicher würde es weitere Reden geben, vermutlich auch vom Minister, doch niemand rührte sich.
Dann schrien etliche Leute auf. Rings um Dumbledores Leichnam und um den Tisch, auf dem er lag, waren helle, weiße Flammen aufgelodert: Sie stiegen immer höher und verdeckten den Körper. Weißer Rauch bewegte sich spiralförmig nach oben und bildete merkwürdige Formen: Einen kurzen Moment, in dem Harry das Herz stehen blieb, glaubte er einen Phönix zu sehen, der freudig ins Blaue davonflog, doch eine Sekunde später schon war das Feuer verschwunden. An seiner Stelle stand nun ein weißes Grabmal aus Marmor, das Dumbledores Leichnam und den Tisch umschloss, auf dem er geruht hatte.
Noch mehr entsetzte Schreie waren zu hören, als ein Schauer von Pfeilen durch die Luft rauschte, doch sie fielen weit vor der Menge zu Boden. Dies war, wie Harry wusste, der Tribut der Zentauren: Er sah sie davonlaufen und wieder im kühlen Wald verschwinden. Auch die Meermenschen sanken langsam in das grüne Wasser zurück und waren nicht mehr zu sehen.
Harry blickte Ginny, Ron und Hermine an: Ron hatte das Gesicht verzogen, als würde ihn das Sonnenlicht blenden. Hermines Gesicht glänzte tränennass, aber Ginny hatte aufgehört zu weinen. Sie erwiderte Harrys Blick mit dem gleichen harten, glühenden Ausdruck, den er an ihr gesehen hatte, als sie ihn umarmte, nachdem sie den Quidditch-Pokal ohne ihn gewonnen hatten, und in diesem Moment wusste er, dass sie einander vollkommen verstanden und dass sie, wenn er ihr sagen würde, was er nun vorhatte, nicht »Sei vorsichtig« oder »Tu’s nicht« erwidern, sondern seine Entscheidung akzeptieren würde, weil sie nichts anderes von ihm erwartet hatte. Und so wappnete er sich für die Worte, die er, wie ihm schon seit Dumbledores Tod bewusst war, aussprechen musste.
»Ginny, hör zu …«, sagte er ganz leise, während das Stimmengewirr um sie herum lauter wurde und die Leute sich allmählich erhoben. »Ich darf nichts mehr mit dir zu tun haben. Wir müssen aufhören, uns zu treffen. Wir können nicht zusammen sein.«
Mit einem merkwürdig schiefen Lächeln erwiderte sie: »Es gibt irgendeinen dummen, edlen Grund dafür,
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