Hauchnah
Eher tausendmal. Hunderttausend.
Natürlich hatte sie das nicht laut ausgesprochen. Und genau so wollte sie es weiterhin halten.
Seufzend öffnete sie die Augen, blinzelte, bis ihre Sicht nicht mehr ganz so verschwommen war, und ging weiter. Im Hintergrund hörte sie Pete, einen Einheimischen, der in diversen Kriegen gekämpft und bei seiner Heimkehr seine Frau an den Krebs verloren hatte, seine Weltuntergangsprognosen und politischen Parolen brüllen. Die Polizei würde es so lange hinnehmen, bis sich eine Traube von Menschen um ihn gebildet hätte. Dann würden sie ihn mit sanfter Gewalt entfernen.
Bedächtig näherte sie sich Pete, immer auf der Hut, niemandem in den Weg zu geraten. Der Markt hatte gerade erst geöffnet, und das Gedränge, das sich in etwa zwei Stunden im Park entwickeln würde, hatte noch nicht eingesetzt. Bis dahin würde sie längst fort sein, ihre Fotos vergrößert auf dem Computermonitor bearbeiten und versuchen, sie nicht zu streng zu beurteilen und nicht daran zu denken, dass sie wohl zu den letzten gehörten, die sie je aufnehmen würde.
Sie geriet ins Stolpern, als etwas ihre Waden streifte, und spontan griff sie nach unten und ertastete weiches Fell. Sie lachte, und der heisere Ton erschreckte sie. „Hallo, Süßer“, meinte sie undstreichelte den Hund, bis der Besitzer nach ihm pfiff und der Hund davonrannte.
Für eine Weile konnte sie unbeschwert lächeln, und sie kostete das unverhoffte Gefühl der Zufriedenheit aus. Als sie Pete erreichte, unterbrach er seine Volksrede, um sie zu begrüßen. „Hallo, Natalie, du Hübsche.“
Angesichts der vertrauten Begrüßung musste sie wieder lächeln. Wann immer sie ihn traf, war Pete höflich zu ihr. Stets erkannte er sie, obwohl sein Bewusstsein in einem Wimpernschlag von wahnhaft auf vernünftig umschalten konnte. „Hi, Pete. Wie geht’s dir heute?“
„Prima. Keine Angst. Alles wird gut.“
„Danke, Pete. Das freut mich.“ Sie warf einen Fünfdollarschein in sein Körbchen und ging weiter. Seine Worte berührten sie seltsam. Er sagte dies bei jeder Begegnung, und meistens tat Natalie sie als leeres Gefasel ab. Aber heute gaben sie ihr Halt.
Zwar schritt die Krankheit fort, doch Natalie konnte noch sehen. Konnte noch arbeiten. Vielleicht hatte Pete recht, und alles würde gut.
Sie hatte für das Planville-Magazin schon Hunderte von Fotos geschossen, um die Sanierung des Stadtzentrums zu dokumentieren. Dank des ungewöhnlich sonnigen Tages allerdings wären die Bilder vom Bauernmarkt eine hübsche Zugabe. Auch wenn noch kein großes Gedränge herrschte, spazierten immerhin schon etliche Besucher umher. Einige bewegten sich so schnell, dass ihre Körper ein Kaleidoskop verschwommener Farben bildeten. Falls sie ihr Tempo jedoch verlangsamten und Natalie nahe genug herankam, konnte sie sie einordnen: Geschäftsleute, Pärchen, Familien.
Wiederholt durchstreifte sie den Park auf der Suche nach Motiven, die sie so oft aufnahm, bis sie genau richtig waren. Einige Male, als Gegenstände oder Personen ihr besonders auffielen, aufgewertet durch den Hintergrund oder einen Gesichtsausdruck, sofern sie ihn erkennen konnte, formulierte sie im Geiste gleich Bildunterschriften. Dies hatte sie sich in Dubai angewöhnt und nicht wieder abgelegt.
Das Foto von der zierlichen dunkelhaarigen Frau, die sich bei dem Mann mit den silbergrauen Haaren untergehakt hatte und lachend zu ihm hochschaute, nannte sie „Freude“.
Und das Bild eines Mannes, der, den Blick auf einen nahen Spielplatz gerichtet, an einem Baum lehnte und etwas in der Hand hielt, das wie eine Videokamera aussah, sollte „Beobachter“ heißen.
Eine ältere Frau ging ernst dreinguckend vorbei, lächelte aber sogleich, als das Baby in ihren Armen Himbeeren auf ihren Hals spuckte. Der Wind trug den Hauch eines Dufts von Babyshampoo und Milch zu Natalie herüber. Sie konnte nicht widerstehen und drehte sich um, um das Baby, so verschwommen es auch war, so lange wie möglich im Blick zu behalten. Es gelang ihr nicht lange.
Im Gewimmel der wachsenden Menschenmenge drang wieder Petes Geschwätz an ihr Ohr. „Nicht, was du denkst … Er hat dich geblendet …“ Natalie runzelte die Stirn, wandte den Kopf und schnappte nach Luft, da sie gegen etwas Hartes stieß.
Kräftige Hände packten sie bei den Armen, damit sie nicht stürzte. „Hoppla, kleine Dame. Pass auf, wohin du gehst.“
Ärgerlich zog Natalie die Brauen hoch. Kleine Dame ? Sie hob den Kopf, kniff die Augen
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