Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
Eigentlich bin ein gut organisierter Mensch. Ich mache To-do-Listen, habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich auf eine SMS nicht
direkt antworte, und versuche, berufliche Reisen immer genau zu planen. Das ist zwar aufwändig, doch es geht ja nur so. Dachte
ich. Und so war meine erste Reise nach Island auch ein Schock. Während ich zwei Wochen vorher die Interviews mit einer Mitarbeiterin
des Außenministeriums, mit dem Fernsehstar, der Polizeisoziologin und anderen verabreden wollte, bekam ich fast immer die
gleiche Antwort: »Ruf mich am Tag vorher noch mal an, dann kriegen wir das schon irgendwie hin.« Was? Am Tag vorher? Ich bin
aber doch insgesamt nur vier Tage in Island und muss zehn Leute treffen. Ich war in Panik.
Und dann machte ich das, was die Isländer auch tun. Ich gab mich dem Flow hin, ließ die Dinge einfach laufen. Und siehe da,
es klappte. Die Termine ergänzten sich perfekt, und wo es doch Überschneidungen gab, waren selbst der viel beschäftigte T V-Moderator und die Ministeriumsbeamtin, die eigentlich ihre Kinder abholen wollte, flexibel genug, eine Alternative anzubieten. Sicherlich
sind die Entfernungen in Reykjavík nicht so groß wie in Berlin, doch es ist vor allem eine Frage der Haltung. Das war vor
gut fünf Jahren. Und so begann eine zarte Liebesgeschichte zwischen Island und mir. Schon einige Jahre zuvor war ich als Backpackerin
mit 14 Kilo auf dem Rücken um die Inselgereist, sah mir an, wie riesige Eisbrocken in einem Gletschersee trieben, wurde im Hochland beinahe von einem Sturm weggepustet
und genoss die weiten Landschaften, in denen kein Baum den Panoramablick trübt.
Island gab mir immer ein Gefühl von Freiheit, nicht nur in der scheinbar unbegrenzten Natur, sondern vor allem durch die Lebensart
der Inselbewohner. Sie trauen sich, jede noch so verrückte Idee auszuprobieren – und zwar stets mit hundertprozentiger Leidenschaft.
Wenn es nicht klappt, ist das nicht so schlimm. Dann versuchen sie eben etwas Neues. Mittlerweile verbringe ich jedes Jahr
mehrere Monate im Land, ich schreibe Reportagen über die Isländer, reise beruflich und privat um die Insel und lebe meist
in derselben Reykjavíker Wohnung: im Haus eines älteren Ehepaares, das mir liebevoll hilft, mein Isländisch zu verbessern.
Ist ihre Wohnung belegt, bieten mir Freunde, die nur auf 25 Quadratmetern leben, selbstverständlich an, bei ihnen zu bleiben. Nicht nur mal für eine Nacht, sondern für Wochen. Das Einzige,
was sie stresst, ist mein Bedürfnis, mich ständig bei ihnen bedanken zu wollen – mit Worten oder Einladungen zum Essen. Für
die Isländer ist es normal, zusammenzurücken und sich spontan auf neue Ereignisse einzustellen. Denn Vulkanausbrüche stehen
in keinem Terminkalender, genauso wenig wie große Finanzkrisen, die plötzlich über sie hereinbrechen. Ihr Land ist ständig
in Bewegung, so nehmen sie Veränderungen erstaunlich gelassen hin und trauen sich, immer wieder andere Wege zu gehen.
Nach dem Finanzcrash wählten die Reykjavíker den berühmtesten Komiker des Landes zu ihrem Bürgermeister, obwohl der im Wahlkampf
versprach, offen korrupt zu sein und nur sich und seine Freunde zu bereichern. Die Isländer nehmen das Leben und die Krisen
nicht so ernst, denn eigentlich ist ihre unwirtlicheInsel im abgelegenen Nordatlantik eine einzige Krise. Dafür aber auch eine sehr schöne, kreative und spannende.
Also: Alles ganz Isi!
PS: Da dies ein Buch über die isländische Lebensart ist und Sie ja offen sind, sich mit ihr zu beschäftigen, beginnen wir
schon mal mit der ersten Lektion: In Island gibt es zwar theoretisch die formelle Anrede »Sie«, aber es duzen sich alle –
selbst der Präsident wird mit Vornamen angesprochen. Darf ich mich dir also vorstellen: Mein Name ist Alva.
An einem Nachmittag im August unterhielt ich mich mit einer Freundin über ihre bevorstehende Ausstellung. Sirra Sigrún Sigurðardóttir
ist eine bekannte Künstlerin aus Reykjavík, sie war mit ihrer Familie und einigen Kollegen zu Besuch in Berlin. Die Sonne
schien, Sirra kam gerade vom Flohmarktbummel zurück. Bis die ersten Gäste zu ihrer Vernissage in der Galerie 111 kommen würden,
waren es noch knapp zwanzig Stunden. »Was zeigst du morgen?«, fragte ich sie. »Hm, ich weiß noch nicht genau.« Sirra lächelte
ein wenig verlegen, überlegte kurz. Bevor sie weiter antworten konnte, sprang ihre neunjährige Tochter Katrín für sie ein:
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