Hawkings neues Universum
folgte eine hässliche Tatsache schon wenige Monate später: Die Entdeckung der Dunklen Energie – unklar, ob in Form von Albert Einsteins Kosmologischer Konstante oder anderen Möglichkeiten, etwa neuen Feldern. Denn, so ergaben Messungen, die inzwischen sehr gut bestätigt sind, der Weltraum dehnt sich immer schneller aus und die Dunkle Energie summiert sich mit der Materie im All ziemlich genau zum kritischen Grenzwert – also zu einem flachen Universum. Damit war das Hawking-Turok-Modell aber überflüssig beziehungsweise nicht mehr anwendbar. Pech gehabt!
Hawkings Blick von oben
„Es ist eine gute Morgengymnastik für einen Wissenschaftler, jeden Tag vor dem Frühstück eine Hypothese zu verwerfen. Das hält ihn jung“, war der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz überzeugt. Und hielt es mit dem romantischen Dichter Novalis: „Hypothesen sind Netze; nur der wird fangen, der auswirft.“
Mit einer solchen Einstellung fahren Wissenschaftler am besten, denn sie schützt sowohl vor festgefahrenen Dogmen als auch vor Langeweile, Beliebigkeit und Resignation. Die Keine-Grenzen-Hypothese erschien Hawking und Hartle gleichwohl gewichtig und interessant genug, um sie nicht so schnell zu verwerfen. Besser ist es, nach zusätzlichen Hypothesen zu fischen, um vielleicht in der Kombination mit dem alten Ansatz einen großen Fang zu machen. Und die Chancen dafür stehen jetzt gut. Denn zusammen mit Jim Hartle und seinem ehemaligen Doktoranden Thomas Hertog, der inzwischen an Instituten in Paris und Brüssel forscht, hat Hawking nun ein neues Weltmodell vorgeschlagen. Es ist noch nicht vollendet, also „work in progress“. Und es ist ebenfalls spekulativ, besteht aber keineswegs in bloßen Behauptungen und schönen Worten. Dahinter stecken vielmehr anspruchsvolle mathematische Konzepte und theoretische Annahmen: neben der der bewährten Pfadintegral-Methode und imaginären Zeit auch der neue „Top-down-Ansatz“.
Viele Geschichten des Universums: In Stephen Hawkings Quantenkosmologie hat das Universum nicht nur eine Geschichte, sondern viele möglichen Geschichten, die sich alle überlagern. Sie lassen sich berechnen und haben verschiedene Wahrscheinlichkeiten. Die Beobachtung der Eigenschaften des Alls heute erlauben dann Rückschlüsse auf die Vergangenheit – vielleicht sogar darauf, wie es zum Urknall kam. Dieser „Top-down“-Ansatz von Hawking arbeitet sich gleichsam von der Gegenwart in die Tiefe der Zeit hinab. Er steht im Gegensatz zu den üblichen „Bottom-up“-Ansätzen, die einen bestimmten Anfangszustand im Urknall postulieren und untersuchen, ob sich dieser mit den Beobachtungen heute vereinbaren lässt.
Erste Ideen dazu hat Hawking bereits 2003 auf einer Konferenz im kalifornischen Davis vorgestellt und – schon im Vortragstitel – Cosmology from the top down genannt. Das steht im Gegensatz zu den üblichen „Bottom-up-Ansätzen“, die einen Anfangszustand des Universums postulieren und dann zu berechnen versuchen, inwiefern sich die kosmische Entwicklung daraus mit den Beobachtungsdaten heute in Übereinstimmung bringen lässt. Der Top-down-Ansatz hingegen geht von unserer gegenwärtigen Beobachterperspektive aus und berücksichtigt alle möglichen quantenphysikalischen Entwicklungsgeschichten. „Diese Geschichten des Universums hängen davon ab, was beobachtet wird – im Gegensatz zur üblichen Annahme, dass das Universum eine einzigartige, beobachterunabhängige Geschichte hat“, sagt Hawking. „In einem bestimmten Sinn führt der Top-down-Ansatz daher zu einem kosmologischen Rahmen, in dem unsere Existenz – oder wenigstens, damit einhergehende Eigenschaften des Universums wie eine klassische Raumzeit – wieder in eine zentrale Position gelangt.“
Das Universum hängt gleichsam von uns ab. Jedenfalls in dem Sinn, dass unsere Existenz eine Raumzeit voraussetzt, die klassisch und groß ist – ein Weltraum eben, der Sterne beherbergen kann. Und das ist in der Quantenkosmologie keine triviale Annahme.
Diese Spielart des Anthropischen Prinzips, das die menschliche Perspektive in den Mittelpunkt rückt, ist unter Kosmologen sehr umstritten. Auch die von Jim Hartle und Murray Gell-Mann entwickelte Viele-Historien-Interpretation der Quantenphysik, die hinter Hawkings Überlegungen steckt, ist nicht jedermanns Sache.
Der Mensch gleichsam als Maß aller Dinge? Das klingt extravagant und ist es auch. Denn hinter dem aufwendigen mathematischen Apparat sitzt gleichsam ein auf uns – oder
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