Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
1
In meinem Traum ist Amanda Ruth nicht tot , sondern schläft nur. Wir liegen unter einer Platane neben einem felsigen Bergpfad. Das Gras ringsum ist übersät mit den Kernen der Früchte, die wir gegessen haben: Pfirsiche und Feigen, Pflaumen und Nektarinen. Ihre Finger sind noch nass von unserer Schlemmerei. Sie glänzen in dem kühlen Berglicht. Sie schläft anmutig, ein Bein unter dem Körper leicht angewinkelt, einen Arm auf dem Gras ausgestreckt.
Ich streife den Träger des Strandkleides von ihrer glatten braunen Schulter. Sie rührt sich nicht. An der Vorderseite des Kleides befindet sich eine lange Reihe kleiner blauer Knöpfe, die bis zum Saum hinunterreicht. Ich öffne sie, einen nach dem anderen, behutsam, um sie nicht zu wecken. Es beginnt zu nieseln. Ich spüre ihre Finger in meinem Haar und sehe, dass sie wach ist und mich lächelnd betrachtet.
»Du siehst verändert aus«, sage ich. »Älter.«
»Stimmt. Ich bin inzwischen zweiunddreißig.«
»Ich dachte, du wärst tot.«
»Tot? Wovon redest du?«
Ich sage, egal. Ich sage, es war nur ein Traum. Sie bittet mich, ihn zu beschreiben. Ich sage: »Du warst tot. Du warst seit langem tot. Ich habe dich schrecklich vermisst. Ich bin nach China gereist, um dich wiederzufinden.«
»Nein«, erwidert sie. »Du bist nach China gereist, um mich loszuwerden.«
»Du hast Recht. Um dich loszulassen. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
Der Wind raschelt in den Bäumen. Regentropfen peitschen die Blätter, das Geräusch wird zunehmend lauter. Bald werden sich die Tropfen ihren Weg durch das Geäst bahnen und auf uns herabrinnen.
»Du warst in China?«
»Ja.«
»Und was hast du gesehen?«
»Mmmm.« Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern, versuche mit einer Antwort aufzuwarten, einer Wahrheit, die sie zufrieden stellen wird.
»War es schön?«
»Ja«, will ich sagen. Ich will ihr sagen, dass China genau so ist, wie sie es sich erträumt hat, ein exotisches, gleichwohl seltsam vertrautes Land. Ich will ihr sagen, dass es mir endlich gelungen ist, mein Versprechen einzulösen, und dass wir gemeinsam den Mittelpunkt der Erde besucht haben. Doch dann hört der Regen auf, die Berge verschwinden und Amanda Ruth ist fort.
2
Der Schellack fühlt sich glatt an unter meinen Fingern, er bildet leichte Wölbungen über den Bildern, eine vom Zufall diktierte Blindenschrift, die ich auswendig kenne. Amanda Ruth hätte gelacht über das mangelnde Stilempfinden ihrer Mutter, die Collage der Fotos, die sie sorgfältig ausgeschnitten und auf dem Deckel der runden Keksdose aus Weißblech angeordnet hatte: Amanda Ruth als Baby, auf dem Arm ihres stolzen Vaters, Amanda Ruth in ihrem Majorettenkostüm, Amanda Ruth, auf dem schmalen Bett ihres Zimmers im Studentinnenwohnheim von Montevallo sitzend. Die Dose liegt auf meinem Schoß und ich lehne mich im Liegestuhl zurück. Die Sitzfläche aus Metall ist nass von der Gischt.
Dave, mein Mann, ist unten in unserer Kabine und schläft. Er schläft für zwei. Ich wache für zwei. Ich gehöre zu den Menschen, die unter Schlaflosigkeit der klassischen Art leiden. Ich warte nächtelang darauf, dass meine Gedanken endlich zur Ruhe kommen, und beuge mich morgens über die Kaffeekanne, mit Händen, die vor Erschöpfung und vom Koffein zittern. Seit wir New York vor zwei Tagen verlassen haben, habe ich kein Auge zugetan.
Es ist fünf Minuten nach Mitternacht. Gedämpfte Stim men driften von der Lounge herauf. Lichter flackern am Flussufer. Ich nehme die kühle, dunkle Strömung des Jangtse wahr, den Geruch nach Fäulnis. Ich spüre eine willkommene Schwere in meinen Gliedern, ein sanftes Gewicht, das gegen meine Augen drückt. Ich träume von Wasser, von einem weißen Körper, der nackt an der Oberfläche treibt. Ich strecke den Arm aus und ziehe ihn zu mir heran, erblicke das runde nasse Gesicht von Amanda Ruth. Sie öffnet die Augen, nimmt meine Hand und steht auf. Wir befinden uns nun an Land, gehen zu Fuß, die spitzen Kieselsteine bohren sich in meine bloßen Füße. Amanda Ruth kann es kaum erwarten, mir etwas zu zeigen. Wir marschieren mehrere Stunden und kommen schließlich zum Eingang einer Höhle. Der Zugang ist von Dickicht überwuchert.
Als ich aufwache, fühle ich mich so ausgeruht, als hätte ich lange geschlafen. Ich hebe meinen Arm, um das Mondlicht einzufangen und auf dem kleinen silbernen Zifferblatt meiner Uhr zu erkennen, wie spät es ist.
»Viertel vor eins«, sagt eine Stimme. Verdutzt drehe
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