Hawkings neues Universum
die Atemwege. Allein in Deutschland leben beziehungsweise sterben jährlich rund 6000 Menschen an ALS. Der eigene Körper als Gefängnis – was aus einem Horrorfilm entsprungen scheint, trifft jedes Jahr ein bis drei von 100.000 Menschen, meistens zwischen 45 und 65 Jahren, Männer etwas häufiger als Frauen. Diese schreckliche Nervenkrankheit wurde erstmals 1869 von dem französischen Arzt Jean-Marie Charcot wissenschaftlich beschrieben. Ihre Ursache ist bis heute völlig ungeklärt. Über Viren, Neurotoxine, Schwermetalle, Enzym- oder Immunsystem-Abnormalitäten wird diskutiert. Fünf bis zehn Prozent der ALS-Erkrankungen sind allerdings erblich bedingt; vier Gene wurden hier bereits identifiziert. ALS ist bislang unheilbar. Nur das Medikament Riluzol kann – wenn früh verabreicht – die Lebenserwartung um ein paar Monate erhöhen.
Prominente ALS-Kranke waren der Baseballspieler Heinrich Ludwig „Lou“ Gehrig, der 1941 mit 37 Jahren starb (daher heißt ALS in den USA auch Lou-Gehrig-Syndrom), der Philosoph Franz Rosenzweig, der Maler Jörg Immendorff, der Archäologe und Ötzi-Forscher Konrad Spindler, der 33. amerikanische Vizepräsident Henry A. Wallace sowie der chinesische Politiker Mao Zedong. Nur etwa zehn Prozent der Erkrankten leben zehn Jahre oder länger nach der Diagnose. Warum Stephen Hawking täglich einen neuen medizinischen Rekord aufstellt, Jahrzehnte nach der Diagnose von 1963, ist den Medizinern ein Rätsel. „Die Erkenntnis, dass ich an einer unheilbaren Krankheit litt, an der ich wahrscheinlich in ein paar Jahren sterben würde, war ein ziemlicher Schock. Wie konnte mir so etwas passieren?“, schrieb Hawking später. „Doch während meines Krankenhausaufenthalts wurde ich Zeuge, wie ein Junge, den ich flüchtig kannte, im gegenüberstehenden Bett an Leukämie starb. Es war kein schöner Anblick. Ich fühlte mich zumindest nicht krank. Seither denke ich immer an diesen Jungen, wenn ich versucht bin, mich zu bemitleiden.“
Die Ärzte rieten Hawking, mit seiner gerade begonnenen Promotion fortzufahren. Aber er kam nicht gut voran und wusste nicht einmal, ob er lange genug leben würde, um sie abschließen zu können. „Ich fühlte mich als tragische Gestalt. Damals hörte ich viel Wagner, aber die Zeitschriftenberichte, denen zufolge ich unmäßig getrunken habe, sind übertrieben.“
Auch für Hawkings Familie war die Diagnose ein Schock. Sein Vater konsultierte andere Ärzte und machte sich kundig, aber dadurch erschien das Todesurteil nur noch unausweichlicher. Seine Schwester Mary erlebte alles aus unmittelbarer Nähe, weil sie an der Klinik arbeitete, als ihr Bruder dort war.
„Bevor meine Erkrankung diagnostiziert worden war, hatte mich mein Leben gelangweilt“, erinnerte sich Hawking später. „Nichts schien mir irgendeiner Mühe wert zu sein. Doch kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus gekommen war, träumte ich, ich solle hingerichtet werden. Plötzlich begriff ich, dass es eine Reihe wertvoller Dinge gab, die ich tun könnte, wenn mir ein Aufschub gewährt würde. In einem anderen Traum, der sich mehrfach wiederholte, opferte ich mein Leben, um andere zu retten. Wenn ich schon sterben müsste, konnte ich wenigstens noch etwas Gutes tun. Aber ich bin nicht gestorben. Trotz des dunklen Schattens, der über meiner Zukunft lag, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich das Leben jetzt mehr genoss als früher.“
Wendezeit: Liebe und Physik
Noch vor der ALS-Diagnose hatte Stephen Hawking mit einem Stipendium seine Promotion an der Cambridge University begonnen. In der Theoretischen Physik gab es nur zwei Forschungsgebiete, die ihm als grundlegend genug erschienen: Kosmologie, die Erforschung des ganz Großen, und Teilchenphysik, die Erforschung des ganz Kleinen. Letztere blühte zwar gerade experimentell ungeheuer auf, weil immer neue Teilchen entdeckt wurden – schließlich sprach man von einem „Teilchenzoo“ mit über 200 Spezies –, aber es gab noch keine umfassende Theorie. „Bestenfalls konnte man die Teilchen, wie in der Botanik, in Familien einordnen. In der Kosmologie dagegen gab es eine eindeutig definierte Theorie, Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie“, begründete Hawking seine Wahl. Und weil in Oxford niemand darüber forschte, ging er nach Cambridge, um bei Fred Hoyle zu promovieren. Dieser war damals der bedeutendste britische Astronom, der durch seine Arbeiten zur Entstehung der schweren Elemente in den Sternen durch Kernfusion und durch
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