Hawkings neues Universum
Studentendiscos auch manchmal bis tief in die Nacht hinein tat.
Krisenzeit: Luftröhrenschnitt und Computerstimme
„Oft werde ich gefragt: Was bedeutet für Sie ALS zu haben? Die Antwort lautet: Nicht sehr viel. Ich versuche, so normal wie möglich zu leben, nicht über meine Krankheit nachzudenken oder den Dingen nachzutrauern, die ich ihretwegen nicht tun kann – es sind im Übrigen gar nicht so viele“, begann Stephen Hawking 1987 in Birmingham seinen Vortrag Meine Erfahrung mit ALS auf einer Konferenz der British Motor Neurone Disease Association.
Bis 1974 konnte er noch selbstständig aufstehen, essen und ins Bett gehen, aber die fortschreitende Krankheit brachte seine Frau nicht selten an den Rand der Erschöpfung. „Als meine Krankheit sich verschlimmerte, hat Jane mich ganz allein gepflegt. Damals hat uns niemand Hilfe angeboten, und wir hätten uns auf keinen Fall eine Pflegerin leisten können“, erinnert er sich. Dann nahmen er und seine Familie einen Studenten bei sich auf. Der erhielt für seine Hilfe freie Unterkunft und Hawkings wissenschaftliche Betreuung. Ab 1980 kam zur Unterstützung eine Krankenschwester morgens und abends für ein bis zwei Stunden.
Anfang August 1985 zog sich Hawking, als er am Kernforschungszentrum CERN bei Genf weilte, eine Lungenentzündung zu, an der er fast gestorben wäre. Er wurde mit Blaulicht ins Genfer Krankenhaus gebracht. Dort erklärte man seiner Frau, es habe keinen Zweck, die Geräte eingeschaltet zu lassen. Doch das akzeptierte sie nicht; daraufhin flog man ihn nach Cambridge. Im Addenbrookes Hospital dort machte der Chirurg Roger Grey einen Luftröhrenschnitt. „Die Operation rettete mir das Leben, raubte mir aber die Stimme“, berichtete Hawking in einem Radio-Interview einmal lakonisch. Seither braucht er rund um die Uhr Hilfe. Die Krankenschwestern, inzwischen sind es zehn verschiedene, lösen sich alle acht Stunden ab.
Neben den Krankenschwestern steht Hawking ein Graduate Assistant zur Seite, der jeweils für ein bis zwei Jahre von der Cambridge University angestellt und bezahlt wird, um „dem Professor in allen Bereichen zu helfen, in denen er aufgrund seiner Behinderung Schwierigkeiten hat“, wie es in der Stellenbeschreibung heißt. Dazu gehört hauptsächlich, Hawkings Computer und Rollstuhl instand zu halten, seine Reisen zu organisieren, Diagramme für Vorträge vorzubereiten, Hawkings Homepage zu aktualisieren, mit den Medien zu kommunizieren und einen Teil der Leserpost zu beantworten. Letzteres tut Hawking fast nie. Aber es gibt Ausnahmen: Als zum Beispiel ein Verzweifelter sich das Leben nehmen wollte, nachdem bei ihm ALS diagnostiziert wurde, hat Hawking ihm sofort Trost und Rat geschrieben.
Bis 1985 hatte Hawking noch sprechen können – wenn auch so undeutlich, dass ihn nur wenige ihm nahestehende Menschen verstanden, die seine Worte dann für andere übersetzten. Immerhin war er so in der Lage, Seminare zu halten und per Diktat seine Fachartikel zu verfassen. Nach dem Luftröhrenschnitt bestand die einzige Kommunikationsform darin, dass er eine Augenbraue hob, wenn ihm auf einer Karte die gewünschten Buchstaben gezeigt wurden – ein furchtbar langwieriges und mühseliges Unterfangen. Als Walt Woltosz, ein Computerexperte in Kalifornien, von Hawkings Misere hörte, schickte er ihm sein Programm Equalizer von der Firma Word Plus Inc., das mit einem Sprachsynthesizer Texte in Laute umwandelt. Das Vokabular umfasste anfangs 2500 Wörter und etwa 200 mathematische und physikalische Fachbegriffe. Woltosz hatte das Programm entwickelt, weil seine Schwiegermutter auch unter ALS litt.
Später montierte David Mason von der Firma Cambridge Adaptive Communications einen Computer an den elektrischen Rollstuhl. Seither kann Hawking wieder sprechen – „bis zu 15 Wörter pro Minute“, wie er sagt – mit einer monotonen und doch eigenartig ätherischen Kunststimme. „Die Stimme ist sehr wichtig. Wenn man undeutlich spricht, neigen die Menschen dazu, einen zu behandeln, als sei man geistig zurückgeblieben. Der einzige Nachteil ist, dass der Synthesizer mir einen amerikanischen Akzent gibt.“ Übrigens ist Hawkings Computerstimme sogar auf dem Album The Division Bell (1994) von Pink Floyd zu hören, bezeichnenderweise in dem Lied Keep Talking .
Bis 2005 betätigte Hawking den Computer mit der noch etwas beweglichen linken Hand, indem er Buchstaben oder Wörter aus einem Menü anklickte und speicherte oder satzweise an den Synthesizer
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