Hebamme von Sylt
und ihre Begleiter winkten aus dem Fenster. Die Menschen, die vor dem Conversationshaus zurückblieben, winkten fröhlich zurück.
Während die Inselbahn sich langsam entfernte, nahm Ioan Bitu seinen Hut ab, schwenkte ihn aus dem Fenster, und setzte ihn dann wieder auf.
Kurz darauf hörte Marinus einen Schrei. Er wusste zunächst nicht, woher er kam, wusste genauso wenig, wem er gelten sollte, ließ wie alle anderen den Blick über die Menschenmenge wandern, um zu sehen, ob sich jemand daraus erhob … dann bemerkte er eine winkende Hand und sah, dass Heye Buuß und Dr. Pollacsek auf jemanden zuliefen. Es war Hanna Boyken. Die Inselbahn entfernte sich zischend und ratternd, während Hanna dem Inselvogt und dem Kurdirektor etwas entgegenschrie. Er konnte nur wenige ihrer Worte aufschnappen und sich zunächst keinen Reim darauf machen. Dann aber sah er die bestürzten Gesichter des Inselvogts und des Kurdirektors und wusste, dass er ein Wort genau verstanden hatte: »Mörder!«
XXVI.
Für Hanna Boyken begann die schönste Zeit ihres Lebens. Dass sie nur wenige Stunden dauern würde, konnte niemand wissen. Und da auch Hanna nichts davon ahnte, genoss sie ihre neue Bedeutung in vollen Zügen.
Hanna Boyken hatte den Mörder Dr. Nissens entlarvt! »Der schwarze Hut! Die Feder! Ich habe sie gesehen. Er trug diesen Hut! Ich erkenne ihn wieder. Der schwarze Mantel, die schwarzen Haare! Der Bart! Die Größe! Seine Haltung! Ich bin ganz sicher!«
Dr. Pollacsek war im Nu überzeugt. »Dieser Kerl ist mir von Anfang an verdächtig vorgekommen. Wo der herumgeschlichen ist, war Dr. Nissen immer in der Nähe!«
Hanna schaffte es auch, dass der Inselvogt seinen Wagen anspannte, um nach Munkmarsch zu fahren und dort Ioan Bitu festzunehmen. Zunächst hatte er nach Gegenargumenten gesucht, weil er weder Hanna Boyken noch dem Kurdirektor zustimmen wollte, aber schließlich hatte er doch eingesehen, dass Hannas Aussage nicht von der Hand zu weisen war.
»Warum warten wir nicht einfach auf ihn?«, schlug er dann vor. »Der Kerl wird mit dem Königspaar von Munkmarsch zurückkehren?«
»Und wenn nicht?«, fragte Dr. Pollacsek. »Stellen Sie sich vor, er nimmt den nächsten Dampfer … und ist weg.«
Heye Buuß sah ein, dass er zum Handeln gezwungen war. Seine Angst vor der Königin durfte er nicht zeigen, wenn auch der Kurdirektor sie nicht zeigte. Dem schien es plötzlich nicht wichtig zu sein, dass Ioan Bitu zum Gefolge der Königin gehörte, also durfte es dem Inselvogt auch nicht wichtig sein. Er spuckte sogar in die Hände und tat so, als wäre es seine Idee, Ioan Bitu in Munkmarsch festzunehmen.
»Diesmal entwischt der Kerl uns nicht. Ich hatte ihn ja schon bei dem Diebstahl der Lohngelder in Verdacht!«
Hanna sah ihnen nach, da spürte sie plötzlich Elisa von Zederlitz an ihrer Seite, die sämtliche Einzelheiten erfahren wollte. »Mein Gott, Hanna! Wenn er dich bemerkt hätte, als er in Dr. Nissens Zimmer stieg!«
Sogar von Fürst Alexander wurde Hanna neugierig angesehen, der eine freundliche Bemerkung über ihre gute Beobachtungsgabe machte. Sie wurde von Menschen mit Fragen bestürmt, die es sonst vermieden, das Wort an sie zu richten. Und sie sah den Stolz in den Augen ihrer Mutter.
Die schönste Zeit ihres Lebens war bereits zur Hälfte vorbei, als Heye Buuß von Munkmarsch zurückkehrte, wo er Ioan Bitu gefesselt in ein Abteil der Inselbahn gesetzt hatte. Dr. Julius Pollacseks Aufgabe war es, darauf aufzupassen, dass Bitu keinen Fluchtversuch unternahm. Die Bahn würde auf sich warten lassen, teilte Heye Buuß mit, König Carol I. von Rumänien sei zu erschüttert, um seine Reise unverzüglich fortzusetzen.
Der Höhepunkt der schönsten Zeit in Hanna Boykens Leben war erreicht, als der Inselvogt sich bei ihr bedankte und ihr mit einem warmen Lächeln die Hand drückte. Für diesen wichtigsten Moment ihres Lebens wurde sie sogar ins Conversationshaus geführt, zu dem man ihr den Zutritt verweigert hätte, wenn sie jemals auf die Idee gekommen wäre, darum zu bitten. Nun aber legten die Herren ihre Zigarren und Zeitungen aus der Hand, die Damen unterbrachen ihre Gespräche, und alle sahen sie freundlich an. Fürst Alexander bot ihr sogar einen Platz in einem riesigen weichen Sessel an, in den sie so tief hineinsank, dass sie sich prompt wieder klein und bedeutungslos vorkam.
Kurz bevor der Inselvogt von Munkmarsch zurückgekehrt war, hatte sie gehört, dass Elisa zu ihrem Verlobten sagte: »Hoffentlich hat sie
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