Hebamme von Sylt
neben dem Haus grasen und spannte es an, wenn er den alten Holzkarren benutzte, auf dem Graf Arndt von Zederlitz nun saß und dem Watt entgegenfuhr.
Marinus starrte ihm so lange nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann machte er sich an den Abstieg und ging auf den Weg zu, den Arndt mittlerweile verlassen hatte: Er verlief eine Weile parallel zum Strand, bis eine Abzweigung direkt nach Westerland hineinführte.
Marinus legte die Hand über die Augen. Der Holzkarren, auf dem sein Bruder saß, war kaum noch zu erkennen. Das Tempo, mit dem er sich vorwärtsbewegte, war doch höher, als er zunächst angenommen hatte. Arndt schien auf die andere Seite der Insel zuzuhalten. Was wollte er dort?
Die beiden jungen Frauen fielen ihm erst auf, als es zu spät war, sich abzuwenden. Elisa winkte ihm bereits fröhlich zu. Obwohl er gerne vor ihrer Unbefangenheit davongelaufen wäre, musste er stehen bleiben und ihr entgegensehen. Sogar lächeln musste er. Und erstaunlicherweise fiel es ihm nicht mal besonders schwer. Elisa gehörte zu den Menschen, die überall ein Lächeln auslösten. Ob diese Fähigkeit sie auch als Tochter von Freda Boyken ausgezeichnet hätte? Und was würde aus ihrem Lächeln werden, wenn sie jemals erfahren sollte, was Graf Arndt getan hatte? Einmal mehr sah Marinus ein, dass er schweigen musste. Das Verbrechen, das vor sechzehn Jahren begangen worden war, schützte Arndt vor der Strafe für alle weiteren Verbrechen. Es war ungerecht! Schamlos und ungerecht! Trotzdem musste er schweigen …
Marinus’ Blick wanderte zu Hanna, deren Augen immer kleiner wurden, je näher sie Marinus kamen. Wieder ähnelte sie Arndts Mutter so sehr, dass er sich fragte, ob Katerina nicht längst Bescheid wissen musste über das, was vor sechzehn Jahren geschehen war.
Marinus bemühte sich um eine muntere Begrüßung. »Guten Tag, die Damen!«
Elisa grüßte fröhlich zurück, Hanna beließ es bei einem undeutlichen Gemurmel. »Du willst also auch dabei sein, wenn König Carol nach Sylt kommt? Die Königin wird gleich losfahren, um ihn in Munkmarsch abzuholen.«
Marinus entschloss sich zu belangloser Freundlichkeit. »Wirst du sie mit Fürst Alexander nach Munkmarsch begleiten?«
Aber Elisa schüttelte den Kopf. »Die Königin hält es für besser,wenn wir ihn in Westerland erwarten. Dann werden auch meine Eltern da sein.«
Marinus wunderte sich. »Es wäre doch schön, wenn König Carol dich bereits am Dampfer in Munkmarsch begrüßen könnte.«
»Die Königin glaubt, dass er sehr erschöpft sein wird nach der Reise. König Carol ist nicht gesund. Es würde ihn irritieren, wenn er eine neue Verwandte begrüßen muss, ohne die Gelegenheit zu haben, sich darauf vorzubereiten.«
Marinus verstand. »Aber ob die kurze Fahrt mit der Inselbahn für eine Erholung ausreichen wird?«
Elisa lachte. »Die Königin ist der Ansicht, dass er sich in ihrer Gegenwart schon nach wenigen Minuten erholt fühlen wird.« Nun rückte sie einen Schritt von Hanna ab, als hätte sie plötzlich bemerkt, dass ihre Gesellschafterin nicht zur Familie gehörte. »Alexander und ich werden der Königin zum Abschied nachwinken. Anschließend gehen wir ins Conversationshaus und warten dort auf die Rückkehr der Inselbahn.« Nun wandte sie Hanna sogar den Rücken zu. »Du könntest uns begleiten, wenn du willst.«
Aber Marinus winkte ab. »Lass das deine Mutter nicht hören. Leute wie ich haben im Conversationshaus nichts verloren.«
Sie gingen die Strandstraße hinab, die am Conversationshaus endete, wo die Inselbahn abfuhr und ankam. Viele Sylter hielten sich bereits dort auf. Anscheinend hatte sich herumgesprochen, dass die Königin an diesem Tag nach Munkmarsch fahren wollte. In zwei Stunden, wenn König Carol in Westerland eintraf, würde die Zahl der Schaulustigen sich vermutlich verdoppelt oder verdreifacht haben.
Am »Strandhotel«, das am Ende der Strandstraße lag, blieb Marinus stehen, als wollte er das reetgedeckte große Haus mit der hölzernen Veranda näher betrachten. Ohne Elisa anzusehen, fragte er: »Glaubst du wirklich, dass dein Vater dabei sein will, wenn König Carol in Westerland eintrifft?«
Elisa sah ihn erstaunt an. »Warum fragst du?«
»Ich habe ihn vor einer Weile fortfahren sehen. Mit dem alten Holzkarren von Okko.«
Elisa sah ihren Onkel ungläubig an. »Du musst dich irren. Mein Vater hat noch nie Okkos Wagen benutzt. Er nimmt die Kutsche, wenn er nicht zu Fuß gehen will.«
Marinus wurde unsicher, als er in
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