Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
1
Eingehüllt in die seidigen Schatten der Nacht, war New York unverändert – und zugleich nicht mehr wiederzuerkennen. Früher hatte Elena vom Fenster ihrer hübschen kleinen Wohnung aus zugesehen, wie die Engel in der Ferne von dem lichtdurchfluteten schlanken Turm abflogen. Jetzt war sie selbst einer dieser Engel und stand hoch oben auf einem Balkon, der kein Geländer hatte, nichts, was sie vor einem tödlichen Sturz bewahren würde.
Doch jetzt würde sie natürlich nicht mehr fallen.
Denn ihre Flügel waren jetzt stärker. Sie war stärker.
Diese Flügel breitete sie nun aus und atmete tief die Luft ihrer Heimat ein. Eine Mischung von Gerüchen – nach Gewürzen und Rauch, menschlich und vampirisch, erdig und raffiniert – brach mit dem wilden Fieber eines Gewitters über sie herein und hieß sie willkommen. Ihre Brust, die so lange wie zugeschnürt gewesen war, weitete sich, und sie breitete die Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus. Es war an der Zeit, ihn zu erkunden, diesen vertrauten Ort, der wieder fremd geworden, ihr Zuhause, das plötzlich wieder ganz neu war.
Sie stürzte sich von dem Balkon hinab und rauschte auf Luftströmen über Manhattan, die den kühlen Hauch des Frühlings mit sich trugen. Die helle, grüne Jahreszeit hielt nun Hof, hatte den Schnee schmelzen lassen, der die Stadt den Winter über fest im Griff gehabt hatte. Der Sommer war noch nicht einmal als pfirsichfarbenes Erröten am Horizont zu erkennen. Es war die Zeit der Wiedergeburt, des Blühens, der Vogelkinder – strahlend und jung und zerbrechlich, selbst in der wilden Hektik einer Stadt, die niemals schlief.
Zu Hause. Ich bin zu Hause.
Während sie sich von den Luftströmungen ziellos über die diamantenen Lichter der Stadt treiben ließ, probierte sie ihre Kräfte aus.
Stärker.
Aber immer noch schwach. Eine Unsterbliche, die gerade erst erschaffen worden war.
Eine, deren Herz auf schmerzhafte Weise sterblich geblieben war.
Daher war sie nicht überrascht, als sie vergeblich versuchte, vor den großen Spiegelglasfenstern ihrer Wohnung zu schweben. Sie hatte dieses Manöver noch nicht gelernt, und so sackte sie immer wieder ab und musste sich mit schnellen Flügelschlägen wieder nach oben kämpfen. Doch in den wenigen Augenblicken, in denen sie sich halten konnte, hatte sie erkannt, dass die einst zersplitterte Fensterscheibe zwar makellos repariert worden war, die Zimmer jedoch leer waren.
NichteinmaleinBlutfleckaufdemTeppichmarkiertedieStelle,andersieRaphaelsBlutvergossenhatte,andersieversuchthatte,diekarmesinrotenStrömeaufzuhalten,bisihreHändedenselbenmörderischenFarbtonangenommenhatten.
Elena.
Derfrische,wildeGeruchvonWindundRegenumhülltesieunderfülltesieganz.DannlegtensichstarkeHändeumihreHüften,undRaphaelhobsiemühelosindierichtigePosition,damitsieruhigindieWohnunghineinsehenkonnte.SiehattesichmitdenflachausgestrecktenHändenandieFensterscheibegelehnt.
Leere.
Nichts war mehr übrig geblieben von dem kostbaren Heim, das sie sich Stück für Stück geschaffen hatte.
»Du musst mir beibringen, wie man schwebt « , zwang sie sich zu sagen, obwohl ihr der Verlust wie ein Kloß in der Kehle saß. Es waren nur ein Ort und nur Gegenstände. »Es ist eine hervorragende Methode, um mögliche Ziele auszuspähen .«
»Ich habe vor, dir eine Menge Dinge beizubringen .« Der Erzengel von New York zog sie näher an sich heran, sodass ihre Flügel zwischen ihnen gefangen waren, und drückte die Lippen auf ihr Ohrläppchen. »Du bist voller Kummer .«
Der Instinkt riet ihr zu lügen, um sich zu schützen. Doch darüber waren sie hinaus, sie und ihr Erzengel. »Wahrscheinlich habe ich irgendwie erwartet, dass meine Wohnung noch da wäre. Sara hat mir nichts davon gesagt, als sie mir meine Sachen schickte .« Und ihre beste Freundin hatte sie noch nie angelogen.
»Bei Saras Besuch war auch alles noch so, wie du es verlassen hattest « , sagte Raphael und zog sich so weit zurück, dass sie ihre Flügel ausbreiten und ihren Körper wieder im Luftstrom ausrichten konnte. Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.
Die Worte waren in ihrem Kopf, ebenso wie der Wind und der Regen. Sie forderte ihn nicht auf, aus ihrem Geist zu verschwinden, denn sie wusste, dass er sich nicht dort befand. Diese Art, wie sie ihn so tief in sich spüren konnte, die Leichtigkeit, mit der sie mit ihm sprechen konnte, waren Teil dieses unbeschreiblichen Etwas, das sie miteinander verband … dieses spannende, verworrene Gefühl, das alte
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