Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe
vertraulich: »Schlaf wohl, Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass du nie mehr so jämmerlich meckern musst.«
Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und sprang dann fröhlich der Herde nach.
Heidi kam unter die Tannen zurück.
»O Großvater, das war so schön!«, rief es, noch bevor es bei ihm war. »Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich hier bringe!« Und damit schüttete Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr offen.
»O Großvater, was haben sie?«, rief Heidi ganz erschrocken aus. »So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?«
»Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen hinein«, sagte der Großvater.
»Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum hat der Raubvogel so gekrächzt?«, fragte Heidi nun angelegentlich.
»Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht, dann sag ich dir’s.«
So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: »Warum krächzt der Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?«
»Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er hinunter: ›Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär’s euch wohler!‹« Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der Erinnerung.
»Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?«, fragte Heidi wieder.
»Die haben Namen«, erwiderte dieser, »und wenn du mir einen so beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er heißt.«
Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig: »Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen gesehen?«
Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
»Den erkenn ich auch«, sagte der Großvater, »das ist die Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?«
Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon gewusst.
»Siehst du«, erklärte der Großvater, »das macht die Sonne, wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt.«
Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen, wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen Sprüngen.
4. Bei der Großmutter
A m andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der Großvater: »Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen.«
Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl,
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