1668 - Wolfsnacht
Es war mal wieder kühler geworden. So spürte Helen den Wind im Gesicht, der in ihre Haut zu beißen schien. Vor zwei Wochen war es wärmer gewesen, aber dieser Hauch von Frühling hatte sich zurückgezogen und war erneut winterlichen Temperaturen gewichen. Die kalte Jahreszeit hatte noch längst nicht aufgegeben. Helen schaltete einen Gang herunter, als das Gelände leicht anstieg. Der Wind ließ ihren Schal flattern. Links von ihr bildete der Wald eine finstere Mauer. An der rechten Seite befanden sich die Gitterstäbe eines massiven Zauns. Gut zu sehen, weil die dort wachsenden Pflanzen zu dieser Jahreszeit noch keine Blätter hatten. Hoch über ihr kämpfte der Tag gegen die einsetzende Dämmerung an. Grau-bleich war der Himmel, über den der Wind die Wolken jagte.
Helen Winter war froh, wenn sie die normale Strecke erreichte. Diese Straße lag nicht so einsam. Sie war befahren und führte direkt hinein in den Ort, in dem sie lebte und sich auch wohl fühlte, obgleich dort nicht viel los war. Zu Hause wollte sie sich einen Tee kochen. Vielleicht noch einen Schuss Rum hineingeben, sich dann vor die Glotze setzen oder mal wieder in ein Buch schauen. Niemand war ihr auf dem Weg entgegen gekommen. Es fuhr auch keiner hinter ihr. Das hatte sie gesehen, als sie hin und wieder einen Blick zurückgeworfen hatte. Eben war die Strecke nie. Manchmal musste sie den Lenker schon hart umklammern, damit die Hände nicht abrutschten. Da fuhr sie über Buckel hinweg, auch durch kleine Schlaglöcher, und sie strampelte härter, wenn der Weg wieder anstieg. Aber sie wusste auch, dass sie den größten Teil der Strecke bereits geschafft und die Breitseite des Schlosses fast hinter sich gelassen hatte. Genau da passierte es. Und es geschah ohne Vorwarnung, sodass Helen völlig überrascht wurde. Sie hatte so etwas noch nie zuvor erlebt, und in dieser kurzen Zeitspanne hatte sie den Eindruck, dass die Zeit nicht mehr weiterlief. Vor ihr tauchte ein Mann auf. Sie hatte nicht gesehen, woher er kam. Es schien, als wäre er vom Himmel gefallen. Sie war froh, dass sie nicht zu schnell fuhr, sonst hätte sie kaum mehr bremsen können.
Das tat sie jetzt!
Der Untergrund war zwar nicht glatt, aber feucht, und so rutschte sie ein Stück nach rechts, war aber in der Lage, ihr Rad abzufangen, sodass sie nicht umkippte. Helen starrte nach vorn. Sie atmete heftig. Vor ihren Lippen standen helle Wolken. Ihr Blick flackerte und sie erlebte heftige Wellen der Angst, die in ihr hochstiegen. Genau das, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte, war jetzt eingetreten. Ein Überfall auf einem einsamen Weg. Oft genug war sie davor gewarnt worden, diese Strecke zu fahren, doch sie hatte immer alle Warnungen in den Wind geschlagen. Und jetzt war es passiert!
Trotz ihrer Angst arbeitete ihr Verstand klar und nüchtern. Auch ihre Sinne waren nicht beeinträchtigt, und sie prägte sich automatisch die Beschreibung ein. Er trug dunkle Kleidung. Auf seinem Kopf saß eine ebenfalls dunkle Strickmütze. Von seinem Gesicht sah sie nicht viel, weil er den Kopf gesenkt hatte. Aber er stand nicht still. Seine Füße rutschten über den Boden hinweg, als wäre es unter den Sohlen glatt. Er schien zudem auf etwas zu warten, denn sonst hätte er längst angegriffen, was er noch nicht tat. Dann schüttelte er sich, schlug mit den Armen um sich und drosch dabei die Hände gegen seinen Körper.
Der erste Angstschub war vergangen. Darüber wunderte sich Helen. Ebenso wie über das neue Gefühl. So etwas wie Neugierde hatte sie erfasst. Da sie bisher noch nicht angegriffen worden war, verflog ihre Angst, und sie dachte jetzt daran, wie seltsam und komisch sich dieser Typ anstellte. Als hätte er irgendwelche Probleme, die ihn quälten.
Er kam nicht einen Schritt vor und blieb bei seinem ungewöhnlichen Benehmen. Hinzu kamen die Geräusche, die er von sich gab. Das klang nach einem Stöhnen oder auch Jammern. Als wollte er um Hilfe bitten.
Sie fand es interessant. Beinahe wäre sie auf die Gestalt zugegangen, um ihre Hilfe anzubieten. Das traute sie sich nicht. Und was dann geschah, überraschte sie ebenfalls. Der Mann riss seinen Kopf hoch, starrte in den Himmel und warf sich eine Sekunde später wuchtig nach rechts. Er wollte nicht mehr auf dem Weg bleiben. Er rannte auf den Waldrand zu. Dort fand er eine Lücke und verschwand zwischen den Bäumen. Er heulte noch mal auf, dann hatte ihn der Wald verschluckt. Helen Winter stand auf dem Weg, hielt ihr Rad fest und wusste
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