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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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schon.
    »Jetzt werd’ ich noch Vorsinger mit meiner Zitterstimme«, sagte die Großmutter, aber sie sang ganz vergnügt einen Vers durch, und wenn die Stimme ein wenig zitterte, so war sie doch ganz richtig und Rico konnte ihr gut die Melodie abnehmen, er hatte sie auch vorher schon gehört.
    Nun fingen sie an, und vor jedem Vers sagte die Großmutter den Kindern die Worte vor, und so sangen sie fröhlich alle miteinander:
    »Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust.Ich sing’ und mach’ auf Erden kund,Was mir von dir bewußt.
    Ich weiß, daß du der Brunn’n der Gnad’ Und ew’ge Quelle bist,Daraus uns allen früh und spatViel Heil und Gutes fließt. –
    Was kränkst du dich in deinem Sinn? Und grämst dich Tag und Nacht?Nimm deine Sorg’ und wirf sie hinAuf den, der dich gemacht.
    Er hat noch niemals was versehn, In seinem Regiment,Nein, was er tut und läßt geschehn,Das nimmt ein gutes End’.
    Ei nun, so laß ihn ferner tun Und red’ ihm nicht darein,So wirst du hier im Frieden ruhnUnd ewig fröhlich sein.«
    »So«, sagte die Großmutter zufrieden, »das war ein rechter Abendsegen, jetzt könnt ihr in Frieden zur Ruhe gehen, Kinder.«
    ----

Neuntes Kapitel.
Ein rätselhaftes Ereignis.
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    Als Rico in das Häuschen eintrat, später als sonst, denn über dem Gesang war wohl noch eine halbe Stunde vergangen, schoß ihm die Base entgegen.
    »Fängst du jetzt so an?« rief sie. »Das Essen stand eine Stunde lang auf dem Tisch, jetzt ist’s fort. Geh nur gleich in deine Kammer, und wenn du ein ganzer Vagabund und Lump wirst, so bin ich nicht schuld; ich wollte lieber ich weiß nicht was tun, als einen Buben hüten, wie du einer bist.«
    Rico hatte nie ein einziges Wörtlein geantwortet, wenn die Base ihn schmähte; aber an dem Abend schaute er sie an und sagte: »Ich kann Euch schon aus dem Wege gehen, Base.«
    Sie schob den Riegel an der Haustür vor, daß es klatschte, dann fuhr sie in die Stube hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Rico ging in seine dunkle Kammer hinauf. –
    Am folgenden Tage, als drüben die ganze große Haushaltung, Eltern, Großmutter und alle Kinder beim Abendessen saßen, kam die Base herübergelaufen und rief in die Stube hinein: ob sie etwas vom Rico wüßten; sie wisse nicht, wo er sei.
    »Der wird schon kommen, wenn’s ans Abendessen geht«, antwortete der Vater geruhlich.
    Nun kam aber die Base ganz in die Stube hinein, denn sie hatte gedacht, sie könne den Buben nur herausrufen, er werde wohl da sein. Nun erzählte sie, er sei schon zum Morgenessen nicht gekommen und zum Mittagessen nicht, und im Bett sei er auch nicht gewesen, das sei noch wie gestern Abend, und sie glaubte fast, der sei schon am frühesten Morgen vor Tag auf seine Lumpereien ausgegangen, denn der Riegel sei schon inwendig von der Haustür weggeschoben gewesen, als sie auftun wollte; sie habe aber zuerst gemeint, sie habe vor Ärger vergessen, ihn zu stoßen, denn es wisse kein Mensch, was sie für Ärger habe.
    »Dem hat’s etwas gegeben«, sagte der Vater unentwegt. »Er wird etwa in eine Spalte hineingefallen sein am Berg oben; das gibt es manchmal mit so schmalen Buben, die überall herumklettern. Ihr hättet es ein wenig früher sagen sollen«, fuhr er langsam fort, »man wird ihn etwa suchen müssen, und des Nachts sieht man nichts.«
    Jetzt fuhr die Base los und machte einen furchtbaren Lärm. Sie habe wohl gedacht, man werde ihr noch Vorwürfe machen wollen; so gehe es immer, wenn man schon jahrelang so viel ertragen und dazu geschwiegen habe.
    »Es glaubt es kein Mensch« – rief sie aus und sagte damit eine große Wahrheit –, »was für ein heimtückischer, hinterlistiger, verstockter Bube der ist, und wie er mir das Leben schwer gemacht hat seit vier Jahren; ein Vagabund wird er, ein Landstreicher und schädlicher Lump!«
    Die Großmutter hatte schon lange zu essen aufgehört. Sie war vom Tisch aufgestanden und vor die Base hingetreten, die immer noch lärmte.
    »Hört auf, Nachbarin, hört auf«, hatte die Großmutter zweimal gesagt, bevor die andere nachgab. »Ich kenne den Rico auch; seit man das Büblein seiner Großmutter brachte, habe ich es immer gekannt. Wenn ich aber an Eurer Stelle wäre, so würde ich kein Wörtlein mehr sagen, aber ein wenig nachsinnen, ob das Büblein, dem ein Unglück begegnet sein kann und das vielleicht schon da droben steht vor dem lieben Gott, ob es da niemanden anzuklagen hat, der in seiner Verlassenheit noch schweres Unrecht

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