Heidi und andere klassische Kindergeschichten
an ihm getan hat mit bösen Worten.«
Der Base war es schon ein paarmal aufgestiegen, wie Rico sie am Abend angeschaut und gesagt hatte: »Ich kann Euch schon aus dem Wege gehen.« Sie hatte auch so furchtbar gelärmt, um diese Gedanken zu übertönen. Sie durfte die Großmutter nicht ansehen und sagte, sie müsse gehen, vielleicht sei der Rico doch nun heimgekommen, was sie jetzt gern genug gesehen hätte.
Von dem Tage an sagte die Base nie mehr ein Wort gegen den Rico vor der Großmutter, aber auch sonst nicht mehr viele. Sie glaubte, wie alle anderen Leute auch, er sei tot, und war froh, daß niemand wußte, was er am letzten Abend zu ihr gesagt hatte.
Am Morgen nach der Nachricht ging Stinelis Vater in die Tenne hinaus und suchte eine Stange; er hatte gesagt, er wolle ein paar Nachbarn rufen, man müsse doch den Buben suchen, etwa gegen den Gletscher hinein und oben bei den Rüfenen.
Stineli war ihm nachgeschlichen, und der Vater sagte: »Es ist recht, komm, hilf mir suchen, du kannst besser in die Winkel hinein als ich.«
Erst als eine hohe Bohnenstange gefunden war, sagte es: »Aber, Vater, wenn der Rico vielleicht der Straße nach gegangen wäre, dann könnte er doch in nichts hineingefallen sein?«
»Freilich kann er«, entgegnete der Vater. »Solch’ unvernünftige Buben kommen vom Wege ab und in die Rüfenen hinein, sie wissen gar nicht wie; und der war sonst ein wenig ein Verstaunter.«
Daß der Rico dies war, wußte Stineli besser als irgend jemand, und von dem Augenblick an kam eine große Angst in sein Herz und wuchs mit jedem Tage, so daß es vor Qual und Unruhe nicht mehr essen und nicht mehr schlafen konnte und alle Arbeit tat, als wäre es nicht dabei.
Der Rico wurde nicht gefunden; kein Mensch hatte etwas von ihm gesehen. Man suchte ihn nicht mehr, und bald fanden die Leute einen Trost und sagten: »Es ist dem Waisenbüblein wohl geschehen, es war doch verlassen und hatte niemand mehr.«
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Zehntes Kapitel.
Ein wenig Licht.
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Aber Stineli wurde stiller und magerer von Tag zu Tag. Die kleinen Kinder schrieen: »Das Stineli will nichts erzählen und lacht nicht mehr.« Die Mutter sagte zum Vater: »Siehst du’s denn nicht? Es ist ja nicht mehr das gleiche.« Und der Vater sagte: »Es kommt vom Wachsen, man muß ihm ein wenig Geißmilch geben am Morgen im Stall.«
Aber als drei Wochen so vergangen waren, da nahm die Großmutter eines Abends das Stineli in ihre Kammer hinauf und sagte: »Sieh, Stineli, ich kann es wohl begreifen, daß du den Rico nicht vergessen kannst; aber du mußt doch denken, daß der liebe Gott ihn weggenommen hat, und wenn es so sein mußte, so war es gut für den Rico, das werden wir dann einmal sehen.«
Da fing das Stineli so zu weinen an, wie es die Großmutter nie an ihm erlebt hatte, und es schluchzte überlaut: »Der liebe Gott hat es ja nicht getan, ich habe es getan, Großmutter; darum muß ich fast sterben vor Angst, denn ich habe den Rico aufgestiftet, an den See hinabzugehen, und nun ist er in die Rüfenen hineingefallen und ist tot, und es hat ihm noch so weh getan, und ich bin an allem schuld.« Und Stineli weinte und schluchzte zum Erbarmen.
Der Großmutter war wie eine schwere Last vom Herzen gefallen; sie hatte den Rico verloren gegeben und heimlich hatte sie der quälende Gedanke verfolgt, das arme Büblein sei der bösen Behandlung entlaufen und liege vielleicht drüben im Wasser, oder sei im Wald zugrunde gegangen. Jetzt stieg auf einmal eine neue Hoffnung in ihr auf.
Sie beruhigte das Stineli so weit, daß es ihr die ganze Geschichte von dem See erzählen konnte, von der sie gar nichts wußte: wie der Rico immer von dem See gesprochen und es ihn dahin gezogen hatte und wie Stineli den Weg auffand. Es war ganz sicher, daß Rico sich dahin auf den Weg gemacht hatte; aber des Vaters Worte von den Rüfenen hatten das Stineli ganz um alle Hoffnung gebracht.
Die Großmutter nahm das Kind bei der Hand und zog es zu sich heran. »Komm, Stineli«, sagte sie liebreich, »ich muß dir nun etwas erklären. Weißt du, wie’s indem alten Liede heißt, das wir noch mit dem Rico gesungen haben am letzten Abend?
›Denn was er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End’.‹
»Siehst du, wenn nun auch der liebe Gott es nicht selbst getan hat, so wie wenn er den Rico gleich in seinem Bette hätte sterben lassen, so war doch die Sache in seiner Hand, als du etwas Verkehrtes tatest, denn einem solchen kleinen Stineli wäre er schon noch Meister
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