Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Pferd nach dem anderen steckte er einen guten Bissen ins Maul. Zwischenein kam er selbst an die Reihe, auf sein Stück Brot kam aber immer ein markiges Stück Käse. Wie sie nun alle zusammen so vergnüglich aßen, schaute der Kutscher ein wenig um sich, und mit einem Male rief er: »He, kleiner Musikant, willst du auch mithalten? Komm her!«
Erst seit Rico das Essen vor sich gesehen, hatte er gemerkt, wie sehr er Hunger hatte. Er folgte gern der Einladung und trat zu dem Kutscher heran. Der schnitt ihm ein ganz erstaunlich großes Stück Käse ab und legte dieses auf ein noch viel dickeres Stück Brot, so daß Rico kaum wußte, wie er die Dinge bewältigen konnte.
Er mußte seine Geige ein wenig auf den Boden legen. Der Kutscher schaute wohlgefällig zu, wie Rico in sein Frühstück biß, und während er selbst sein Geschäft fortsetzte, sagte er:
»Du bist noch ein kleiner Geiger, kannst du auch etwas?«
»Ja, zwei Lieder, und dann noch das vom Vater«, antwortete Rico.
»So, und wo willst du denn hin auf deinen zwei kleinen Beinen?« fuhr der Kutscher fort.
»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos ernsthafte Antwort.
Jetzt entfuhr dem Kutscher ein so kräftiges Gelächter, daß der Rico ganz erstaunt zu ihm aufschauen mußte.
»Du bist ein guter Fuhrwerker, du«, lachte der Kutscher noch einmal; »weißt du denn nicht, wie weit das ist, und daß ein schmales Musikäntlein, wie du eins bist, sich beide Füße mitsamt den Sohlen durchlaufen würde, bevor es noch einen Tropfen Wasser vom Gardasee gesehen hätte? Wer schickt dich denn dort hinunter?«
»Ich gehe selber aus mir«, sagte Rico.
»Ein solcher ist mir noch nicht vorgekommen«, lachte der Kutscher gutmütig. »Wo bist du daheim, Musikant?«
»Ich weiß es nicht recht, vielleicht am Gardasee«, erwiderte Rico völlig ernsthaft.
»Ist das eine Antwort!« Jetzt schaute der Kutscher den Knaben vor sich genau an. Wie ein verlaufenes Bettelbüblein sah der Rico nicht aus. Der schwarze Lockenkopf über dem Sonntagswämschen sah ganz stattlich aus, und das feine Gesichtchen mit den ernsthaften Augen trug einen edlen Stempel und man schaute es gern noch einmal an, wenn man es gesehen hatte.
Dem Kutscher mochte es auch so gehen, er schaute den Rico fest an und dann noch einmal erst recht, dann sagte er freundlich: »Du trägst deinen Paß auf dem Gesicht mit, Büblein, und es ist kein schlechter, wenn du schon nicht weißt, wo du daheim bist. Was gibst du mir nun, wenn ich dich neben mich auf den Bock nehme und dich weit hinunterbringe?«
Rico staunte, als wäre es fast nicht möglich, daß der Mann diese Worte wirklich ausgesprochen habe. Auf dem hohen Postwagen ins Tal hinunter gefahren, ein solches Glück hätte er nie für sich möglich gehalten. Aber was konnte er dem Kutscher geben?
»Ich habe gar nichts als eine Geige, und die kann ich Euch nicht geben«, sagte der Rico traurig nach einigem Besinnen.
»Ja, mit dem Kasten wüßte ich auch nichts anzufangen«, lachte der Kutscher. »Komm, nun sitzen wir auf, – und du kannst mir ein wenig Musik machen.«
Rico traute seinen Ohren nicht; aber wahrhaftig! der Kutscher schob ihn über die Räder auf den hohen Sitz hinauf und kletterte nach. Die Reisenden waren wieder eingestiegen, der Wagen wurde zugeschlagen und nun ging’s die Straße hinunter, die bekannte Straße, die Rico so oft sich von oben her angeschaut und verlangt hatte, da hinunter zu kommen. Nun war die Erfüllung da und in welcher Weise! Hoch oben zwischen Himmel und Erde flog der Rico dahin und konnte immer noch fast nicht glauben, daß er es selber sei.
Den Kutscher wunderte es nun doch ein wenig, wem denn das Büblein neben ihm gehören könnte.
»Sag mir einmal, du kleine, fahrende Habe, wo ist denn dein Vater?« fragte er nach einem festen Peitschenknall.
»Der ist tot«, antwortete Rico.
»So, und wo ist deine Mutter?«
»Die ist tot.«
»So, und dann hat man noch etwa einen Großvater und eine Großmutter, wo sind diese?«
»Die sind tot.«
»So, so, aber etwa einen Bruder oder eine Schwester hast du ja sicher; wo sind die hingekommen?«
»Sie sind tot«, war Ricos fortwährende traurige Antwort.
Da nun der Kutscher sah, daß da alles tot war, ließ er die Verwandtschaft in Ruhe und fragte nur: »Wie hieß dein Vater?«
»Enrico Trevillo von Peschiera am Gardasee«, erwiderte Rico.
Nun legte der Mann sich die Dinge ein wenig zurecht und dachte bei sich: das ist ein verschlepptes Büblein von da unten herauf, und
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