Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Stanhope besuchen. Die Kinder wurden eingelassen und vom Mädchen in das Zimmer geführt, wo Nora auf einem schneeweißen Bette lag, sie selbst so weiß und still, wie sie noch niemand gesehen hatte. Am Bette kniete die Mutter; sie schaute nicht auf und blieb regungslos auf ihrem Platze, das Gesicht auf das weiße Lager gedrückt. Emmi legte still ihre Blumen auf das Bett hin, dann erfaßte sie die Hand der Nora zum Abschied. Jetzt stürzten der Emmi die Tränen aus den Augen, denn da lag nun die Nora, kalt und schweigend für immer, und Emmi konnte ihr nie mehr etwas Freundliches tun, und da sie noch am Leben war, hatte es Emmi nie getan und war am liebsten gar nicht zu ihr gegangen, und doch war Nora so krank gewesen und so viel allein und hatte wenig Freuden gehabt. Das kam der Emmi nun sehr übers Herz und sie weinte leise fort, als sie nun mit Fred das Zimmer verließ. Einige Zeit nachher trat die Frau Doktorin in das stille Zimmer ein. Frau Stanhope erhob sich, sie hatte die Eintretende erkannt. Jetzt verwandelte der dumpfe Schmerz der Trauernden sich in einen ungeheuren Jammer. »O, können Sie es begreifen, wie ganz verarmt ich bin?« rief sie unter einem Strom von Tränen aus. »O, warum mußte der liebe Gott mir dieses einzige Kind nehmen? Hätte er mir Hab und Gut, allen Reichtum, alles, was ich besitze, weggenommen und mir mein Kind gelassen, ich hätte ja nicht gehadert, ich hätte ja gern alles entbehrt und alles getragen, wenn ich nur mein Kind behalten hätte! Das ist das Härteste, das mir widerfahren kann, das Allerhärteste; o warum muß ich gerade mehr als alle anderen leiden?«
»Liebe Frau Stanhope«, sagte hier die Frau Doktorin, indem sie besänftigend die Hand der Jammernden ergriff, »ich begreife wohl Ihren großen Schmerz, aber denken Sie auch an ihr Kind! Es ist doch nicht das größte Leiden, an sein Kind zu denken, das der liebe Gott zu sich genommen und für immer von seinen Schmerzen befreit und zur ewigen Freude eingeführt hat. Wie die bittere Armut tut, das können Sie nicht ermessen, und welche Leiden die Mütter durchzumachen haben, die schon in frühen Jahren die Kinder zu harter Arbeit anhalten müssen, die ihnen keine Freuden zu bieten, nur Entbehrungen aufzulegen haben, die für sich und die Kinder nichts anderes kennen, nichts anderes vor sich sehen, als schwere Tage und herbe Sorgen, das kennen Sie nicht. Nehmen Sie Ihren Schmerz aus Gottes Hand an und messen Sie nicht. Jedem ist ja das Leiden das größte, das in seinem Herzen brennt; aber unser Vater im Himmel weiß, warum Er jedes auf dem Wege führt, den es zu gehen hat.«
Frau Stanhope war stiller geworden, doch lag der Ausdruck eines trostlosen Schmerzes fortwährend auf ihrem Angesicht. Nach einer Weile des Stillschweigens teilte sie dann der Frau Doktorin mit, daß sie ihr Kind mit fortzunehmen gedenke, damit es in ihrer Nähe und in der Nähe seines vorangegangenen Bruders ruhe. Diese traurige Reise allein zu machen, dazu könne sie sich nicht entschließen, sie habe die treue Wärterin ihres Kindes, Klarissa, herberufen, daß sie alles Äußere für sie besorge und ihr zur Seite bleibe.
Diese Nachricht war für die besorgte Frau Doktorin eine große Beruhigung; nun wußte sie, daß, was von außen her der armen Mutter an Trost und Hilfe konnte geboten werden, ihr bald und am wohltuendsten durch diese treue alte Freundin zuteil werden würde. Diese allein hatte ja die entschlafene Nora gekannt und auch geliebt wie eine zweite Mutter. So kehrte die Frau Doktorin mit ein wenig erleichtertem Herzen zurück, denn da war nun doch die Aussicht auf eine wohltuende Umgebung für die vereinsamte Frau. Das mußte sie gleich der Tante mitteilen, denn auch diese hatte ja eine so herzliche Teilnahme für die verarmte Mutter. Aber die Tante war nirgends zu finden. Emmi, die ganz gegen ihre Gewohnheit still in einer Ecke saß, berichtete, der Fred habe lange die Tante gesucht, er habe sie gewiß zu einer Käferschau nötig gehabt und fortgeholt. Die Mutter dachte auch, es werde so sein, und setzte sich zu Emmi hin, die gern noch von der Nora wollte erzählen hören. Es war ihr ein Bedürfnis, von der Mutter zu hören, daß die Nora froh und zufrieden gewesen war ohne sie und daß ihr ihre Gesellschaft nicht gemangelt hatte, denn sie fühlte jetzt wohl, daß sie nur an sich selbst gedacht hatte bei dem Besuch und gar nicht daran, was sie für die einsame, kranke Nora tun könnte.
Fred war wirklich längere Zeit der Tante
Weitere Kostenlose Bücher