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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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an dem Noras Lehnstuhl stand, nach dem Abendhimmel hin, wo die Sonne untergehen wollte. – Nora war den ganzen Tag müde gewesen und hatte wenig geredet. Ganz still saßen auch jetzt die Kinder nebeneinander und schauten nach dem golden leuchtenden Himmel hin. Jetzt strahlten die Flammen der scheidenden Sonne noch einmal glühend empor, und wie ein goldener Strom ergoß sich das Leuchten über Bäume und Hügel auf die Wiesen herab.
    »Sieh, sieh! Elsli!« rief Nora aus und ihre Augen leuchteten, wie Elsli sie noch nie gesehen hatte; »sieh, dort kommt der kristallene Strom herübergeflossen! O ich möchte dorthin und weit über den Strom gehen, o wie wird es schön dahinter sein, wo alle die Blumen und die glücklichen Menschen sind und wo sie so froh herumgehen und niemals müde werden! Aber jetzt bin ich so müde, Elsli, komm ein wenig näher zu mir, willst du?« Elsli rückte ganz nah heran und Nora legte ihren Kopf auf seine Schulter. »O, so bin ich gut«, setzte sie leise hinzu, »so sehe ich mitten, mitten hinein. O sieh, es ist, wie wenn der Himmel ganz offen stünde, und man sieht, wie es leuchtet drinnen und schimmert und glänzt. O wie schön! O wie schön!« – Auch das Elsli hatte noch nie ein solches Leuchten am Himmel und solchen Goldglanz auf allen Hügeln gesehen. In stummem Erstaunen schaute es darauf hin, und regungslos lagen die Kinder lange, lange da, bis gegen Abend hin aller Glanz erloschen war und leise ein weißer Nebel unten vom Tal aufstieg und sich über die Wiese legte. Jetzt trat Frau Stanhope ins Zimmer; sie hatte, wie nun oft geschah, Elslis Anwesenheit benutzt, in einem anderen Zimmer ihre Briefe zu schreiben. Sie nahte sich der Nora, die immer noch ganz still auf Elslis Schulter ruhte.
    »Gott im Himmel«, schrie die Mutter auf, »Nora, mein Kind! Es ist nicht möglich! Erwache! Gib mir Antwort!«
    Frau Stanhope war niedergekniet; sie zog die Nora an sich; einen Augenblick schaute sie auf das bleiche, stille Gesichtchen, dann warf sie sich über das Kind und schluchzte in Verzweiflung.
    Schneeweiß vor Schrecken stand das Elsli da. Was konnte mit der Nora begegnet sein, das ihre Mutter so unglücklich machte?
    »Hol den Arzt, Kind! Lauf, soviel du kannst!« stieß jetzt die schluchzende Mutter hervor. Elsli eilte fort. Der Arzt war nicht zu Hause; seine Frau gab dem Elsli Bescheid. Es mußte ihr alles erzählen, was sich zugetragen hatte. Dann sagte sie teilnehmend: »Ich glaube, der kranken Nora ist für immer wohl, die ist gewiß im Himmel.«
    Das Elsli stand wie vom Schlag getroffen. »Ist sie nun schon gegangen?« fragte es tonlos. Dann stürzten ihm die Tränen unaufhaltsam die Wangen herunter und vor großer Erschütterung hatte ein Zittern seinen ganzen Körper erfaßt.
    »Du armes Elsli«, sagte die Frau Doktorin, das Kind bei der Hand nehmend, »komm, setz dich einen Augenblick hier nieder!« Aber das Elsli war so von seinem Eindruck überwältigt, daß es nicht sitzen konnte. Es hielt sein Schürzchen vor die Augen und lief wieder fort, ganz kläglich vor sich hin jammernd: »O! o! Nun ist sie schon gegangen und ohne mich!« Als es bei Frau Stanhope eintrat, fand es diese noch in derselben Stellung über ihr Kind gebeugt und verzweiflungsvoll weinend und klagend. Elsli setzte sich auf den Schemel hin, den die Nora eben noch gebraucht hatte, und weinte ganz still. So verfloß wohl eine Stunde, dann kam der Doktor. Nachdem er eine kurze Zeit den Platz der Frau Stanhope eingenommen und sich über die Nora gebeugt hatte, wandte er sich zu der Mutter. »Frau Stanhope«, sagte er in rascher, aber teilnehmender Weise, »ich habe nichts mehr zu tun hier, suchen Sie das Unabänderliche zu tragen, das Kind ist tot. Ich will Ihnen meine Frau schicken.« Dann ging er.
    Nach einer Weile kam die Frau Doktorin. Aber kein Wort des Trostes, das sie in ihrer herzlichen Teilnahme aussprach, fand Eingang bei der verarmten Mutter. Sie hatte sich wieder über ihr Kind geworfen und sah und hörte nicht, was um sie her vorging. Als die Frau Doktorin bemerkte, daß es für einmal unmöglich war, sich der trostlosen Frau zu nähern, trat sie zu dem Elsli heran, das immer noch auf seinem Schemel saß und leise fortweinte; sie faßte das Kind sanft bei der Hand und zog es auf. »Komm mit mir, Elsli«, sagte sie freundlich, »es ist Zeit für dich, heimzugehen. Wir wollen dich auch nicht vergessen, Elsli, und der liebe Gott vergißt keins seiner Kinder. Du mußt dich zu trösten suchen und denken,

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