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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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nachgelaufen und hatte sie endlich festnehmen können und nun weit hinunter nach dem entferntesten Gartenhaus mit sich gezogen, denn er wollte ganz allein mit ihr reden. Hier setzte er sich neben sie auf die Bank und sagte ernsthaft: »Siehst du, Tante, ich muß dir etwas sagen, aber nur dir allein. Heute habe ich die Nora gesehen; sie ist ganz tot und ich kann nicht begreifen, daß sie einmal wieder erwachen und leben kann im Himmel.«
    »So? das kannst du nicht begreifen, Fred? Siehst du, ich auch nicht«, sagte die Tante; »aber der liebe Gott hat noch viele Dinge gemacht, die du auch nicht begreifen könntest und ich ebensowenig, und doch sind sie da. Wenn uns nun aber einer, dem wir fest glauben können, verspricht, daß wir wieder leben werden nach dem Tode dieses Körpers, so wollen wir glauben, bis wir begreifen; und ich glaube zuversichtlich daran, Fred.«
    »Aber«, fing dieser in seiner gewohnten Zähigkeit noch einmal an, »ich habe doch immer gedacht, das Lebendigsein ist in dem Menschen wie in den Tieren, und wenn ein Tierchen keine Bewegung mehr macht, so ist es ganz tot und fängt nie mehr zu leben an; das habe ich beobachtet.«
    Hier wurde das Gespräch zwischen Fred und der Tante unterbrochen, da der heimkehrende Vater an dem Gartenhäuschen vorbeikam und die Tante aufforderte, mit ihm durch das Äckerchen zu wandern, um die prachtvollen Kohlköpfe zu bewundern, die sich da entfaltet hatten. Fred ging still seiner Wege, denn Kohlköpfe konnte er nicht bewundern, die ließen ihn im Gegenteil viel schwere Augenblicke voraussehen, da er den grünen Stoff auf seinem Teller erblicken würde.

Neuntes Kapitel.
Eine letzte und eine erste Reise.
    ----
    Eben war ein großer Reisewagen am Hause des Arztes vorübergefahren, worin ganz allein eine schwarze Frau saß. Das mußte die Klarissa sein, die gekommen war, Nora heimzuholen. Die Doktorskinder standen alle vier im Garten und schauten still dem Wagen nach, denn sie empfanden, wie traurig diese Reise sein mußte. Die Tante stand oben am Fenster und schaute mit ihnen dem Wagen nach. Als er unten um die Ecke verschwunden war, winkte sie dem Fred, heraufzukommen; sie stand in seinem Zimmer. Er kam augenblicklich heraufgerannt.
    »Sieh, Fred, ich räume dir ein wenig auf, du hast hier eine ziemliche Unordnung, und Dinge, die keinen Wert haben, wollen wir nicht aufbewahren. In dieser Schachtel ist ein totes Tierchen, das werfe ich nun fürs erste fort.« Die Tante ging ans Fenster mit der Schachtel.
    »Um’s Himmels willen, Tante, was willst du machen?« schrie Fred auf und stürzte sich auf die Schachtel; »das ist meine schönste Raupe, das gibt ja den prachtvollen Totenkopf nachher, das ist der allerschönste Schmetterling mit der wundervollsten Zeichnung auf den Flügeln.«
    »Ach was noch gar«, sagte die Tante, »dies Tier hier ist ganz tot und bewegt sich gar nicht mehr, da ist ja alles fertig.«
    »Aber Tante, weißt du denn gar nichts von der Geschichte der Raupe? Das ist ja schrecklich!« rief Fred in großer Aufregung aus, die Schachtel so fest als möglich in seiner Hand haltend. »Siehst du, hier liegt sie jetzt eingepuppt und ist ganz wie tot; und diese Hülle, die du siehst, ist auch tot, die wird nachher zurückgelassen. Aber siehst du, darunter, zu allerinnerst, ohne daß du es sehen kannst, ist doch etwas lebendig geblieben, denn auf einmal, wenn es Zeit ist, verläßt es diese Schale, denn die gehört nun nicht mehr zu ihm, und auf fliegt es mit schönen Flügeln und ist ein ganz neues, prächtiges Geschöpf.«
    »Das kann ich aber nun wirklich nicht begreifen, Fred«, sagte die Tante, »wie es zugeht, daß ein Wurm, der immer an der Erde gekrochen hat, erst ganz tot daliegt und dann auf einmal schöne Flügel hat und davonfliegt als ein neues Geschöpf und den alten Leib, mit dem er an der Erde kriechen mußte, zurückläßt. Kannst du das begreifen, Fred?«
    »Nein, ich begreife es schon nicht«, entgegnete Fred; »aber es ist ja gewiß so, Tante, ganz gewiß, wenn man schon nicht begreift, wie das so sein kann.«
    »Fred«, sagte die Tante ernsthaft, »wenn nun das Innerste, das in der Nora lebendig war, gerade so die tote Hülle verlassen hätte und aufgestiegen wäre zu fernen, schönen Höhen, um dort als ein neues, herrliches Wesen fortzuleben?«
    Fred wurde ganz nachdenklich. »Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte er dann, »jetzt muß ich ganz anders an die Nora denken. Die wird aber froh gewesen sein, so frei aufzufliegen, da

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