Mercy, Band 2: Erweckt
Kapitel 1
Ich bin allein in der unendlichen Dunkelheit, in der grenzenlosen Leere des Raums. Nichts kann dem Ort, den ich einnehme, Form verleihe n – es gibt kein Oben, kein Unten, kein Gespür für Entfernunge n –, nichts, außer dem hellen weißen Licht, das meine Haut ausstrahlt.
Ich bin schwerelos. Meine Füße berühren den Boden nicht, denn es ist kein Boden da. Nur atemlose, gebannte Leere.
Ein zweites Licht blinkt vor meinen Augen auf. Ist es wie ich? Dann noch eins und noch eins, bis ich umringt bin von Lichtern, Hunderten, Tausenden, in der Schwärze verstreut. Wie Glühwürmchen, wie Diamanten. Und alle warten.
Ein gewaltiger Atem braust durch uns hindurch, an uns vorbei, hebt meine Haare, kräuselt die Säume meiner wehenden Gewänder.
Sei , wispert er mir zu. Lebe .
Und staunend sehe ich mit an, wie die Leere zum Leben erwacht: Planeten, Sterne, Sonnen, Monde flammen auf, in allen Farben, allen Schattierungen, wie von der Hand eines Malers erschaffen. Große und kleine Himmelskörper fliegen vorbei, Kometen, schwarze Löcher, Supernovä, seltsame Risse in Raum und Zeit; all das kreist über mir wie eine gemalte, aber doch fühlende, lebendige Kuppel, die unablässig ihre Oberfläche verändert.
Und jetzt weiß ich, wo ich bin. Meine schimmernde Gestalt erstrahlt noch heller, so wie die aller anderen, die mit mir hier draußen sind. Unsere Herzen öffnen sich.
Wir sind zu Hause.
Zu Hause.
Es ist also vorbei, endlich.
Keine Angst mehr, keine Ungewissheit.
Ich bin frei.
Eine wilde Freude erfasst mich, so heftig, dass ich es kaum aushalten kann. Ehrfürchtig, voll Dankbarkeit hebe ich die Hände an mein Gesicht. Tränen füllen meine Augen, rinnen ungehindert über meine Wangen.
Und in diesem Moment wird mir klar, dass etwas nicht stimmt.
Denn ich kann nicht weinen. War nie dazu geschaffen. Ich habe keine Tränen. Nur Menschen weinen und ich bin kein Mensch.
Also ist es ein Traum.
Schlagartig verschwindet alles, und wieder ist es dunkel, unerbittlich dunkel. Aber diesmal bin ich nicht allein.
„Da bist du“, sagt er, und wir schnellen aufeinander zu, geisterhaft, in der Leere des Raums.
Luc.
Mein Geliebter.
Das schönste Wesen der Schöpfung. Goldhäutig, goldhaarig, breitschultrig, schmalhüftig, hochgewachsen und schlank. Seine Augen sind hell wie flammendes Eis, wie klirrendes Wasser. Herzzerreißend.
Ich sehe ihn an, dann mich, und selbst jetzt, im Traum, kann ich kaum glauben, dass wir einst zusammen waren, verstehe nicht, was ihm je an mir gefiel.
In der schwerelosen Dunkelheit schlingt Luc seinen Arm um meine Taille und dreht mich zu sich herum, damit er mich besser erkennen, mir ins Gesicht blicken kann.
„Wo warst du? Warum rettest du mich nicht? Ich war so allein“, schluchze ich und hasse mich sofort für diese Worte. Ich klinge wie ein weinerliches kleines Mädchen, das sich verzweifelt festklammert. Früher war ich anders. Er lacht nur und zieht mich enger an sich, legt sein Kinn auf mein Haar, eine Geste, so vertraut, so lang ersehnt, dass ich die Augen schließe und die Tränen nicht zurückhalte, die immer weiterströmen.
„Tu mir das nicht an“, schluchze ich. „Zeig mir nicht, was ich nicht haben kann. Ich will nach Hause. Ich will, dass alles wieder wie früher ist.“
„Ich kann dich nicht retten“, erwidert er sanft und nimmt mein Gesicht in seine Hände. „Das kannst du nur selbst. Ich kann auch die Uhr nicht zurückdrehe n – jene Zeit ist vorbei, alles ist jetzt anders, unwiderruflich. Aber ich kann dir immerhin helfen. Diesmal kann ich dir helfen. Doch zuerst musst du etwas für mich tun.“
Ich werde sofort ruhig, höre ihm zu.
Er spricht leise, verschwörerisch, als befürchtete er, belauscht zu werden. „Die Acht sorgen dafür, dass ich dich nicht finden kann. Immer wieder bringen sie dich fort, verstecken dich in fremden Körpern, ohne erkennbares Muster. Ort, Sprache, Kultu r – alles ist willkürlich, unvorhersehbar. Wie oft hatte ich dich beinahe eingeholt! Aber im letzten Moment rissen sie dich wieder fort, in ein neues Leben, einen neuen Körper, einen der vielen Millionen Körper, die sich auf der Erde tummeln. Dann fing die Jagd von vorne an. Deshalb kann ich dich nur in deinem Schlaf erreichen, in deinen Träumen, wo ich dich anflehe, mich zu suchen. Aber das hast du nie getan.“
Er lacht, doch ich spüre die gewaltige Enttäuschung, die sich in ihm aufgestaut hat.
„Du kannst nichts dafür“, sagt er. „Ich werfe es dir
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