Heidi und andere klassische Kindergeschichten
seinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja sein Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte es doch nie mehr vergessen.
Als es nun so recht von Herzen für sich und den Großvater und die Großmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in sein weiches Heu zurück und schlief ganz fest und friedlich bis zum hellen Morgen.
Der Winter dauert fort
Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack mitgebracht, denn da ging es so zu: Wenn um Mittag die Kinder im Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran vergnügen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schluß zum Öhi hinüber und machte seinen Besuch beim Heidi.
Als er heute nach Schulschluß in die große Stube beim Öhi eintrat, schoß das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es gewartet. »Peter, ich weiß etwas«, rief es ihm entgegen.
»Sag’s«, gab er zurück.
»Jetzt mußt du lesen lernen«, lautete die Nachricht.
»Hab’s schon getan«, war die Antwort.
»Ja, ja, Peter, so mein ich nicht«, eiferte jetzt das Heidi. »Ich meine so, daß du es nachher kannst.
»Kann nicht«, bemerkte der Peter.
»Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht«, sagte das Heidi sehr entschieden. »Die Großmama in Frankfurt hat schon gewußt, daß es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht glauben.«
Der Peter staunte über diese Nachricht.
»Ich will dich schon lesen lehren, ich weiß ganz gut, wie«, fuhr das
Heidi fort. »Du mußt es jetzt einmal erlernen, und dann mußt du alle
Tage der Großmutter ein Lied lesen oder zwei.«
»Das ist nichts«, brummte der Peter.
Dieser hartnäckige Widerstand gegen etwas, das gut und recht war und dem Heidi so sehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit blitzenden Augen stellte es sich jetzt vor den Buben hin und sagte bedrohlich:
»Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du müssest auch nach Frankfurt, daß du allerhand lernest, und ich weiß schon, wo dort die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das furchtbar große Haus gezeigt. Aber dort gehen sie nicht nur, wenn sie Buben sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz große Herren sind, das habe ich selber gesehen. Und dann mußt du nicht meinen, daß nur ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle sehen ganz schwarz aus, wie wenn sie in die Kirche gingen, und haben so hohe schwarze Hüte auf den Köpfen« - und das Heidi gab das Maß von den Hüten an vom Boden auf.
Dem Peter fuhr ein Schauder den Rücken hinauf.
»Und dann mußt du dort hinein unter alle die Herren«, fuhr das Heidi mit Eifer fort, »und wenn es dann an dich kommt, so kannst du gar nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst du nur sehen, wie dich die Herren ausspotten, das ist dann noch viel ärger als die Tinette, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn diese spottet.«
»So will ich«, sagte der Peter halb kläglich, halb ärgerlich.
Im Augenblick war das Heidi besänftigt. »So, das ist recht, dann wollen wir gleich anfangen«, sagte es erfreut, und geschäftig zog es den Peter an den Tisch hin und holte das nötige Werkzeug herbei.
In dem großen Paket der Klara hatte sich auch ein Büchlein befunden, das dem Heidi wohlgefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das könne es gut zu dem Unterricht für den Peter gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.
Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen.
Der Peter mußte den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache sauber und geläufig haben.
Endlich sagte es: »Du kannst’s immer noch nicht, aber ich will dir ihn jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weißt, wie’s heißen muß, kannst du’s dann besser zusammenbuchstabieren.« Und das Heidi las:
»Geht heut das A B C noch nicht,
Kommst morgen du vors
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