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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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bestreut wurde. Von einem rotierenden Teller fächerte das Granulat, wie ein Wasserspiel über den geeggten Acker – ganz sinnvoll dieser Mechanismus und auch ästhetisch einwandfrei.
    Ein über die Ackerkrume schreitender Bauer, der dasselbe mit der Hand täte, wäre natürlich eindrucksvoller gewesen.
    Der Waldrand wurde als Müllabladeplatz verwendet. An sich sind Müllplätze ja ganz interessant, mit denen kann man mehr anfangen als mit Aussicht, aber wegen eines Müllplatzes war Matthias ja schließlich nicht hierhergekommen. Ein emaillierter Trichter fiel ihm auf, etwas angerostet, aber noch intakt. Den nahm er mit.

    Dann gab er sich einen Ruck und fuhr dem Dorf entgegen, das jetzt seine Heimat werden sollte, an einer großen, noch kahlen Eiche vorüber und auf einem schmalen, nach Karbolineum riechenden, ausgewaschenen Steg über das Flüßchen Eische: ein schwarzes, flinkes Wasser mit langgezogenen, oszillierenden Ölflecken, auf dessen Grund sich Wasserpflanzen im Strom bogen. An dieser Eiche haben sie früher Bauern aufgehängt… dachte Matthias, und er sah die Abbildung im Geschichtsbuch vor sich: die Plünderung eines Dorfes im Dreißigjährigen Krieg.

    Auf dem Trecker, der puffend über das Feld fuhr und das weiße Granulat verstreute, stand ein Spitz, den gebogenen Schwanz in die Höhe. Eine junge Frau saß hinter dem Steuer, mit langen schwarzen Zöpfen.

4

    B evor sich Matthias nach der Schule umsah – sie würde ihm nicht weglaufen -, fuhr er erst einmal eine Runde durch das Dorf; Hundegebell, Hähnekrähen und sogar das Kollern von Truthähnen folgten ihm. In der Ferne schrillte ein Sägewerk.
    Klein-Wense war ein geschichtsloses Haufendorf, ein Dorf aus Häusern voll Geschichten: norddeutsch breit lagen sie da, die Niedersachsenhäuser, eins hier, eins dort, unter hundertjährigen Eichen, hinter aufgeschossenen Birnbäumen, runden Apfelbäumen, Gebüsch und flatternder Wäsche, Bibelspruch über dem Tor, Pferdeköpfe auf dem Giebel, Milchkannen auf dem Zaun. Zwischen den würdigen Bauernhäusern stand auch Ärmlicheres: Nachkriegsbaracken und Katen. An einem Siedlerhaus war das Schild«Commerzbank»zu lesen.

    Menschen ließen sich nicht blicken, aber die Bewohner des Dorfs sahen den Mann sehr wohl, der da mit Koffer auf dem Gepäckträger an ihren Zäunen entlangradelte. Sein Mantel schlug mit den Flügeln, und Hühner flohen über den Weg. Wegen seines Koffers hätte man ihn leicht für einen Vertreter von Kurzwaren halten können. Aber für einen Vertreter hielt ihn hier niemand, alle dachten: Das wird wohl der neue Lehrer sein.
    Schon so mancher Lehrer war in diesem Dorf erschienen und wieder verschwunden. Das Dorf hatte noch alle überlebt, pro Generation einen: grünlodene Jäger, Musikfreunde mit Geige:«Horch, was kommt von draußen rein…», rotgesichtige Säufer und Prügler – in der Schulchronik hatten sie sich alle verewigt, zu Kaisers Zeiten mit schräglaufender deutscher Schrift, die Sozis fad und die Nazis steil:
    Feiertag der nationalen Urbeit!
Groker Umzug der GU, der Bereine und der Schule.
Bflanzen der Sitlereiche!
    Auf Matthias machten die Gehöfte einen vertrauten Eindruck: In der Pausenhalle des Gymnasiums hatte jahrelang das Modell eines Niedersachsenhauses gestanden, von Sextanern gebastelt, das Dach, unter dem Mensch und Tier es warm hatten, abnehmbar, damit man das Flett sehen kann, auf dem das Gesinde an Winterabenden saß und im Feuer stocherte. Das Wort«bodenständig»hatte in der Schulzeit eine Rolle gespielt: Pieter Lüng plus Agnes Miegel; von in Speck gebratenen Äpfeln war nicht die Rede gewesen.
    «Für den nordischen Kopf ist kennzeichnend das weit über den Nacken ausladende Hinterhaupt. Das Gesicht ist schmal mit ziemlich schmaler Stirn, schmaler, hochgebauter Nase und schmalem Unterkiefer mit betontem Kinn.«
    «Häuser mit Strohdach», im Sommer kühl, im Winter warm, und die Feuerversicherungsprämien sind hoch… Vielleicht würde man in einem dieser Häuser Freunde gewinnen, Menschen, die von Vergangenem erzählten – von«vor dem Krieg», als es noch kein elektrisches Licht gab, oder vom«Ersten Krieg». Wie weit reicht die Erinnerung in so einem Dorf? Vielleicht bis in jene Zeit, als noch Wölfe ums Dorf heulten? – Brot mit Pflaumenmus, dazu ein Glas Milch, gemütlich müßte es sein in diesen Häusern, besonders wenn’s regnet!

    Fotografieren werde ich hier nicht, dachte Matthias – die Fotografen der norddeutschen Tiefebene hatten

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